Sächsische Zeitung, Seite 3, 21.01.2021

Unter Verdacht

Der AfD droht die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. In Sachsen hat die Bewertung der Partei zu heftigen Konflikten geführt.

Von Tobias Wolf und Karin Schlottmann

Für Michael Kretschmer steht fest: „Das sind Feinde der Demokratie“. Die Debatten im Landtag und im Bundestag seien beängstigend. „Das ist wirklich schlimm, solche Reden haben wir über Jahrzehnte nicht gehört“. Er sehe in der AfD „Rechtsextremismus“ und eine „Verächtlichmachung der Grundwerte“, sagte Sachsens Regierungschef nach dem CDU-Bundesparteitag.

Die deutlichen Worte fallen wenige Tage vor der erwarteten Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz über die Einstufung der AfD als extremistischer Verdachtsfall. Dies basiert auf einem Gutachten, an dem die Behörde in den vergangenen zwei Jahren gearbeitet hat. Wenn es so kommt, dürfen die Verfassungsschutzämter in Bund und den Ländern die Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten, unter strengen Voraussetzungen Personen observieren, Telefone überwachen und V-Leute in der Partei anwerben.

Vor allem Sachsen gilt als Hochburg des vom Bundesamt als rechtsextremistisch eingestuften „Flügels“ der Partei, der zwar seit Frühjahr 2020 offiziell aufgelöst ist, aber dessen Anhänger weiter den Landesverband der Partei prägen und auch im Landtag sitzen. In Brandenburg und Thüringen ist die Situation ähnlich. Die Verfassungsschutzbehörden haben die jeweiligen AfD-Landesverbände im ersten Halbjahr 2020 als Verdachtsfall eingestuft und unter Beobachtung gestellt.

Aber was bedeutet Verdachtsfall? Der Verfassungsschutz kann Organisationen so einstufen, die (noch) nicht eindeutig extremistisch sind, bei denen aber gewichtige Anhaltspunkte für solche Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorliegen. Teil dieser Grundordnung sind das Mehrparteienprinzip, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte und die Achtung der Menschenrechte.

Im Fall der AfD geht es um den Vorwurf, sie verfolge menschenrechtswidrige Ziele. Mindestens ein Gericht hat sich damit bereits auseinandergesetzt. Laut Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin über die Einstufung der „Jungen Alternative“ und des „Flügels“ bestehe der Verdacht, dass die zentrale Vorstellung der AfD sei, das deutsche Volk im ethnischen Bestand der „autochthonen Bevölkerung“ zu erhalten und „Fremde“ nach Möglichkeit auszuschließen.

Dieses grundgesetzwidrige Volks- und Menschenbild zeige sich in Reden und Schriften exponierter Mitglieder, etwa wenn von einer drohenden „Umvolkung“ geredet werde. Auch die kontinuierliche Agitation gegen Ausländer, das Bemühen, sie zu diffamieren und verächtlich zu machen, verstoße gegen die Menschenwürde.

Spätestens im Januar 2017 dämmerte den Sicherheitsbehörden, dass die zunächst von Wirtschaftsprofessoren gegründete Partei auf dem Weg in den politischen Extremismus sein könnte. Der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke bezeichnete im Dresdner Brauhaus Watzke das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“.

Sein Vorredner, der heutige Bundestagsabgeordnete Jens Maier, sprach davon, dass die „Herstellung von Mischvölkern“ in Europa „einfach nicht zu ertragen“ sei. Die Aufarbeitung der Naziherrschaft bezeichnete er als „Schuldkult“, den er kurzerhand für beendet erklärte. Bei einem anderen Auftritt soll er den 77-fachen Massenmord des Terroristen Anders Breivik aus Norwegen mit den Worten relativiert haben: „Breivik ist aus Verzweiflung heraus zum Massenmörder geworden.“ Über die NPD äußerte sich Maier lobend: Viele hätten diese gewählt, weil sie „die einzige Partei war, die immer geschlossen zu Deutschland gestanden hat“.

Auch die von Hooligans und Neonazis ausgelösten Krawalle von Chemnitz 2018 dürften in die Einschätzung des Bundesamtes eingeflossen sein. Nach dem gewaltsamen Tod des Chemnitzers Daniel H. entstand im September 2018 eine große Bewegung, orchestriert von der lokalen rechtsextremen Gruppe „Pro Chemnitz“.

Die AfD stand vor der Wahl, sich davon abzugrenzen oder sich an die Spitze zu setzen und so ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Ein von der Partei organisierter Trauermarsch mit prominenten Funktionären aus ganz Deutschland gilt inzwischen als ein Schlüsselmoment, in dem die Partei den Schulterschluss mit der extremen Rechten in Deutschland suchte und fand.

Als Beispiel für die in der AfD verbreitete „Umvolkungs“-These gilt auch ein Zitat von Björn Höcke. Er hatte 2016 einen negativen Asylsaldo gefordert. „Minus 200.000 Asylbewerber pro Jahr muss das mittelfristige Ziel deutscher Politik sein.“ Das führt, konsequent gedacht, zu einer Definition von Staat, die sich an ethnischen Grundsätzen orientiert. Der Slogan „Wir holen uns unser Land zurück“ kann nicht nur als Wunsch nach einem Land mit traditionellem Familienbild und ohne „Gendergaga“ interpretiert werden – sondern auch nach einem Land möglichst ohne Zuwanderung.

Seit Monaten hatte es Hinweise darauf gegeben, dass auch in Sachsen der gesamte AfD-Landesverband in den Fokus rücken könnte. Nach SZ-Informationen wurde eine entsprechende Prüfung in der Behörde abgeschlossen und liegt zur Entscheidung im Innenministerium. Doch das Landesamt für Verfassungsschutz ist in Sachen AfD abgetaucht, die Hausspitze darf nichts sagen. Das hat mit der speziellen gesetzlichen Situation im Freistaat zu tun.

Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) hatte als Konsequenz aus der Löschaffäre im Sommer angekündigt, das Verfassungsschutzgesetz schnell ändern zu wollen – vor allem mit Blick auf eine Beobachtung der AfD.

Bislang darf das Amt nicht öffentlich über Verdachtsfälle informieren, sondern erst, wenn eine Gruppe als erwiesen extremistisch gilt. Die schnelle Änderung gibt es nicht. Der grüne Koalitionspartner soll nach SZ-Informationen darauf pochen, nicht nur die Nennung des Verdachtsfalls zu erlauben, sondern mehr Rechte für das Parlament bei der Kontrolle des Geheimdienstes fordern.

Sachsen ist nicht nur mit einer gesetzlichen Transparenzoffensive spät dran. Auch bei der Fokussierung auf extremistische AfD-Mitglieder und Abgeordnete haben andere Länder und der Bund den Freistaat abgehängt. Das hat mit dem als Löschaffäre bekannt gewordenen Streit zwischen Verfassungsschutz und der Rechtsaufsicht im Innenministerium zu tun, der nach der Entlassung des früheren Behördenchefs Gordian Meyer-Plath Anfang Juli 2020 bekannt wurde.

Innenminister Wöller und Meyer-Plaths Nachfolger Dirk-Martin Christian hatten dem scheidenden Behördenleiter vorgeworfen, das Amt habe Daten zu AfD-Abgeordneten rechtswidrig gespeichert. Diese müssten gelöscht werden. Tage später ruderte Christian zurück. Eine Untersuchung des Datenschutzbeauftragten ergab so gut wie keine Beanstandung.

Meyer-Plath hatte sich vor seinem Rauswurf gegen eine Anweisung seines späteren Nachfolgers Christian gewehrt. Er sollte Daten und Vermerke zu mutmaßlich extremistschen Aktivitäten von vier Abgeordneten des Landtags, eines EU-Parlamentariers sowie drei Bundestagsabgeordneten löschen. Reden und die Teilnahme an Demonstrationen seien Aktivitäten mit dem Ziel, Mehrheiten für Meinungen zu schaffen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht im Einklang stünden.

Würde das nicht berücksichtigt, entfiele der Charakter des Landesamtes als Frühwarnsystem. Das Bundesamt kommt inzwischen offenbar zu ähnlichen Schlüssen. Auch wenn dies das Risiko mit sich bringe, dass die AfD gegen eine solche Einstufung klagen könnte. Aber dieses Risiko gebe es Fachleuten zufolge immer. „Die AfD stört nicht die Beobachtung, sondern die öffentliche Bekanntmachung“, sagte ein Sicherheitsexperte.

Dirk-Martin Christian lässt bei der Bewertung bisher allenfalls die Zugehörigkeit zum „Flügel“ gelten und auch das nur vorübergehend. Alles müsse gerichtsfest sein. Das Problem: Das ist kaum gerichtsfest feststellbar. Dieses Rechtsverständnis prägte wohl auch die Entscheidung zu Pegida. Im Umgang mit der Bewegung galt Ex-Amtschef Meyer-Plath auch in Verfassungsschutzkreisen als Zauderer. Kritiker außerhalb des Sicherheitsapparates warfen ihm vor, auf dem rechten Auge blind zu sein. Unter seiner Ägide legte die Behörde Anfang 2018 drei Jahre nach Entstehen der Bewegung einen Prüffall an, stufte Pegida nach entsprechenden Erkenntnissen zum Verdachtsfall hoch.

Ab Frühherbst 2019 arbeitete das Amt daran, Pegida als gesicherte extremistische Bestrebung zu beobachten. Pegida entwickle sich immer mehr zum Forum für Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum, hieß es. Gemäß Dienstvorschrift ging der Einstufungsvermerk Anfang März 2020 an die anderen Verfassungsschutzbehörden. Pegida war nun eine gesicherte rechtsextremistische Organisation wie die NPD. Fehlte nur die öffentliche Verkündung. Dass Pegida nun beobachtet würde, deutete Bundesamtschef Thomas Haldenwang bei einer Pressekonferenz Mitte März in Berlin an, in dem er Pegida-Anführer Lutz Bachmann erstmals als Rechtsextremisten bezeichnete.

Im Verbund der Bundesländer war man erleichtert. Ein hochrangiger Verfassungsschützer sagt: „Das war wichtig, um Protagonisten, die über Sachsen hinaus gehen, zu bewerten. Die Begründung schien fundiert und hatte Substanz.“ Die Rechtsaufsicht im sächsischen Innenministerium befand: Das reicht nicht. Sie kassierte die Einstufung. Eine Woche nach der Übermittlung musste Sachsens Verfassungsschutz die Einschätzung zurückziehen. Dabei hatte es im Pegida-Umfeld schwere Straftaten wie einen Bombenanschlag auf eine Moschee gegeben. Auch die Terrorgruppe Freital und andere Netzwerke haben sich im Pegida-Umfeld radikalisiert. „Was brauchen die in Sachsen eigentlich noch an Beweisen“, sagt ein Sicherheitsexperte.

Seitdem klar ist, dass der Verfassungsschutz die AfD wegen ihres völkischen Denkens als Bedrohung sehen könnte, bemüht sie sich um Zurückhaltung. Am Montag unterschrieben AfD-Spitzenpolitiker eine „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“. „Als Rechtsstaatspartei bekennt sich die AfD vorbehaltlos zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen“. Dies gelte unabhängig davon, „welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand hat, wie kurz oder lange seine Einbürgerung oder die seiner Vorfahren zurückliegt“.

Im Verbund aus Bund und Ländern gibt es Stimmen, die eine Diskussion anmahnen, wie ein moderner Verfassungsschutz aussehen sollte. Erkenntnisse seien nicht für den Panzerschrank bestimmt. Man müsse aus der Rechtsprechung lernen und dürfe nicht an Paragrafen klebenbleiben aus einer Zeit, in der es keine Massenmobilisierung über soziale Medien gegeben habe. „Der Auftrag an den Verfassungsschutz ist: Nicht abzuwiegeln, sondern Gefahren zu erkennen und zu benennen“, sagt ein Verfassungsschützer. Wer nicht sucht, der findet nichts.“ Dies müsse auch mit modernen Mitteln geschehen, etwa mit Fake-Profilen in sozialen Netzwerken. „Klar ist das eine Grauzone, aber man kann nicht warten, bis Dinge in der Zeitung stehen und sie erst dann zur Kenntnis nehmen.“

Mitarbeit: Luisa Zenker, Thilo Alexe