Sächsische Zeitung, Seite 3, 23.12.2013

Das Vermächtnis der Schunckes

Sie waren eine große Dresdner Musikerfamilie. Sie gaben dem Weltstar Sergej Rachmaninow ein Obdach. Und doch verloren sie fast alles. Was blieb, liquidiert nun der letzte Erbe. Von Baden-Baden aus.

Von Tobias Wolf (Text und Fotos)

Das Vermächtnis der SchunckesDie herbstlich kahlen Bäume wiegen sich im Wind, in dem weitläufigen Garten dahinter versteckt sich die Villa. Erker, Fachwerk, eine Sonnenterrasse. Zu sehen ist das auf einem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto, das Michael Schuncke immer wieder in die Hände nimmt. Ein Bild, das Erinnerungen weckt. Es zeigt den „Fliederhof“ in Dresden-Blasewitz, ein Haus, das seine Geschichten nicht mehr erzählen kann, weil es durch einen Brand zerstört wurde. Und doch hat die Geschichte dieser Villa den 84-Jährigen nie losgelassen.

Michael Schuncke könnte mit seiner dunklen Jeans und seinem Outdoor-Hemd glatt noch als Mittsechziger durchgehen. Er sitzt in einem Sessel in seiner Wohnung in Baden-Baden, die Augen sind voller Neugier, seine Hände ruhen im Schoß. Schuncke erzählt von seiner Kindheit, die er in Dresden und in Baden-Baden verbrachte, nachdem sich die Eltern Anfang der 1930er-Jahre getrennt hatten. Er erzählt von Ausflügen ans Elbufer mit dem Vater, der eine Filzfabrik in Dittersdorf bei Chemnitz leitete und nur selten daheim war. Von duftendem Kuchen im Café „Toskana“ am Blauen Wunder, wo er bis heute mit Vorliebe einkauft, wenn er die Heimat besucht.

Sie waren eine große Familie im „Fliederhof“, mitsamt Tante und Onkel. Michael Schunckes Großeltern hatten das Haus 1918 gekauft. Anfang der 1920er-Jahre wird es zum Treff der Dresdner Künstlerszene. Maler, Schriftsteller, Bildhauer kommen und gehen. Nur einer bleibt: der russische Komponist Sergej Rachmaninow. In seiner Heimat verfolgt, lebt erst in der Schweiz, ab 1906 regelmäßig in Dresden. Er ist ein Gentleman mit einem Hang zur Schwermut. „Um Winterkonzerte vorzubereiten, zog Rachmaninow zu uns ins Erdgeschoss“, sagt Schuncke.

Dessen Mutter beschreibt in ihren Aufzeichnungen, wie sie Rachmaninows Spiel auf dem Familienflügel lauschte: Nie die gleichen Passagen wiederholend, durchsetzt mit stillem Zögern, klingend nach der Sehnsucht eines Menschen, der seiner Heimat beraubt wurde. 1935 ist er zum letzten Mal im „Fliederhof“ und verkündet, dass er in die USA auswandert. „Es ging ihm gesundheitlich so schlecht, dass meine Familie eine Kur empfahl.“ Rachmaninow verbringt deshalb einige Zeit in „Lahmanns Sanatorium“ im wohlhabenden Viertel Dresden-Weißer Hirsch, danach fährt er zur Kur nach Baden-Baden, lässt sich dort auch psychologisch betreuen.

Die Beziehung der Schunckes zum russischen Weltstar von einst fügt sich nahtlos ein in die Geschichte einer zwei Jahrhunderte alten Musikerdynastie. Bereits in sechster Generation bewahrt Michael Schuncke das Erbe von 25 Hornisten aus einer der größten europäischen Musikerfamilien. Ihre Ursprünge hat sie im kursächsischen Merseburg, wo der Bäckermeister Johann Gottfried Schuncke Mitte des 18. Jahrhunderts eine ungewöhnliche Form der Werbung etablierte: Der Bäcker war ein talentierter Waldhornbläser, auch seine Söhne lernten, das Instrument zu spielen. War er mit dem Backen fertig, schickte er sie auf die Straße und ließ sie blasen. „Als Signal für frische Brötchen“, sagt Michael Schuncke. Seinen sächsischen Dialekt hat er immer noch.

Nach Rachmaninow sind die Hornisten das zweite große Thema seines Lebens. Der badische Dresdner springt durch die Jahrhunderte, erzählt von Hofmusikern, deren Freunde Robert Schumann, Carl Maria von Weber oder Franz Liszt waren. In ganz Europa verteilten sich die Schunckes, bis an die Höfe in Schweden, England und Frankreich. Seit seiner Jugend konserviert und vervollständigt Schuncke, was vom Archiv der Hornistendynastie geblieben ist: Notenblätter, Briefe, Kirchenbuchauszüge, Bilder und ein Waldhorn von 1835. „Höchstens zehn Prozent der ursprünglichen Sammlung konnte ich retten.“

Anfang Februar 1945 flüchtet er mit seiner Mutter als 15-Jähriger aus Dresden. Er verlässt den „Fliederhof“, sieht ein letztes Mal die mit Seide bespannten Zimmerwände, die Stuckdecken und geschnitzten Wandvertäfelungen. In Gedanken ist Schuncke immer noch in der Lage, alle Wege abzulaufen, auf die ihn vor allem die Großmutter geschickt hatte – als Boten über die Straße oder durch den Waldpark, um die Nachbarn zu Konzert- und Bridgeabenden einzuladen. Die Flucht aus Dresden führt zunächst ins schwäbische Crailsheim, wo eine Großtante das Familienarchiv hütet. Dann geht es nach Baden-Baden. Eine Vorahnung lässt den Jungen einen Teil des Archivs in den Koffer packen. Kurz darauf zerstört ein Bombenangriff auf Crailsheim fast alles. Es ist nicht der einzige Schlag. Als der Krieg zu Ende geht, fällt Schunckes großer Bruder, den Onkel aus dem „Fliederhof“ töten betrunkene Rotarmisten auf der Straße, in Baden-Baden beschlagnahmen französische Militärs das Haus der Mutter. Die kleiner gewordene Familie richtet sich dennoch im Südwesten ein, Großmutter und Tante hingegen bleiben in Dresden.

Michael Schuncke führt das Familienerbe fort und studiert Musik. Die Mutter verkauft dafür ihren Schmuck, aber das reicht noch nicht. Er bricht das Studium ab und beginnt bei einer Werbefirma. Ein Lehrauftrag an einer Fachschule bringt ihm einen unerwarteten Kontakt in die Heimat, die inzwischen hinter dem Eisernen Vorhang liegt. Auf einer Messe im Westen stellt der DDR-Betrieb Nagema aus, der ein Büro im Souterrain des Dresdner „Fliederhofs“ bezogen hat und die Miete der Tante zahlt. „Die Nagema-Mitarbeiter kannten sie und schwärmten vom Haus“, sagt Schuncke. Einen Gegenbesuch in der DDR lehnt er ab, weilt er nicht in ein Land will, das die väterliche Textilfabrik enteignet hatte.

Weitere Bewohner des „Fliederhofs“ zu dieser Zeit sind zudem die Sängerin Senta Kutzschbach sowie ein Arzt. Die Ostpolitik der Bundesregierung bringt Anfang der 1970er-Jahre Probleme für Westdeutsche, die Grundbesitz in der DDR haben: Schuncke soll binnen eines Monats 24 000 D-Mark für einen Anbau in der Wohnung des Arztes zahlen. Dabei überweist der nur sporadisch die Miete von 200 DDR-Mark an die Tante, die bereits Geldprobleme hat. Schuncke weigert sich, der Arzt zahlt nun gar nichts mehr.

Schuncke will die Tante zu sich holen und die Villa aufgeben. Nur Kindheitserinnerungen sollen mit: ein paar Bilder, ein alter Schreibtisch, etwas Meißner Porzellan. Selbst dies wird zum Problem. Aber die Tante hat Kontakte. Sie lädt den Direktor der Dresdner Musikhochschule, Karl Laux, zu Kaffee und Kuchen ein und auch den Chef der Staatlichen Kunstsammlungen, Max von Seydewitz. Als Gutachter entscheidet er, was aus der DDR raus darf. Er stellt fest: Die gewünschten Stücke seien „wertlos für den Besitz des Volkes“, die Malerei sei drittklassig, das Porzellan unbedeutend. Verpackt in Holzkisten landet alles auf einem Güterwaggon. Als der in Baden-Baden eintrifft, sind die Kisten durchlöchert, ein Gemälde ist beschädigt. Offenbar wollten die DDR-Grenzer mit Bajonetten sicherstellen, dass sich kein Republikflüchtling versteckt hatte.

In Dresden gibt es nun nur noch einen Vertrauten: den damals 70-jährigen Hausverwalter Alfred Größel. Die Villa soll als Geschenk an die Musikhochschule gehen, auch um an Rachmaninow zu erinnern. Doch Direktor Laux muss eingestehen, dass man sich nichts von Kapitalisten schenken lassen dürfe. Auch ein Denkmal für den als Klassenfeind geltenden Rachmaninow ist undenkbar. Nach der Abfuhr verkauft Schuncke. Der Arzt, der keine Miete zahlt, erwirbt die Villa 1974 für 26 000 DDR-Mark.

Hätte er nicht besser abwarten sollen, um das Haus für die Familie zu erhalten? Schuncke schüttelt den Kopf: „Das wäre finanziell nicht drin gewesen, weil ich Mutter, Tante und meine Kinder durchbringen musste“, sagt er. „Außerdem glaubte keiner von uns, dass die Grenze je wieder aufgehen könnte.“

Schuncke hat alle Briefe aufbewahrt, die Hausverwalter Größel von Dresden aus in den Westen sandte. Darin ist auch die Tragödie beschrieben, die ihn bis heute beschäftigt. Im Juni 1979 lässt sich der neue Villenbesitzer scheiden. Kurz darauf weckt eine Explosion die Sängerin Senta Kutzschbach, die im ersten Stock lebt. Flammen schlagen aus dem Erdgeschoss. Über eine Wendeltreppe flüchtet sie in den Garten. Später stellt sich heraus, dass die frisch geschiedene Arztgattin die Räume mit Benzin besprüht, auf den Mann und die drei Kinder benzingetränkte Decken gelegt hatte und alles anzündete. „Eine Wahnsinnstat“, schreibt Hausverwalter Größel erschüttert. Der Polizei zufolge habe die Frau unter Depressionen gelitten, heißt es in dem Brief weiter. Sie, ihr Ex-Mann und der jüngste Sohn kamen in den Flammen um, ein weiterer Sohn und die Tochter überlebten schwer verletzt. Mit dem Sohn hat Michael Schuncke einige Male telefoniert. „Ich habe ihm keine Vorwürfe gemacht“, sagt er. „Die Kinder können ja nichts dafür.“

Kurz nach dem Mauerfall kehrt Schuncke erstmals seit 45 Jahren nach Dresden zurück. Im Januar 1990 fährt er zunächst ins Viertel Weißer Hirsch und geht dann doch zu der Wiese, auf der der geliebte „Fliederhof“ stand. Das Grundstück hatte inzwischen mehrmals den Besitzer gewechselt: in den 1980er-Jahren von den Erben des Arztes zum katholischen Bistum Dresden-Meißen, das dort bauen wollte, es in der DDR aber nicht konnte; vom Bistum an einen Besitzer, der es nach der Wende wiederum an eine Schweizer Firma mit Sitz in München verkaufte.

Wie viele Besitzerwechsel es danach noch gab, weiß Schuncke nicht. Heute stehen dort zwei Wohnhäuser, die nichts mit der einstigen Pracht zu tun haben. Nur eine Gedenktafel an der Grundstücksmauer zur Goetheallee erinnert seit ein paar Jahren an die zerstörte Villa, die einem Menschen bis heute alles bedeutet. Michael Schuncke war da, als sie enthüllt wurde: an seinem 80. Geburtstag, den er mit Torten aus dem Café „Toskana“ am Blauen Wunder bei Freunden feierte.

In seiner Familie wird Michael Schuncke wohl der Letzte sein, dem Dresden und das Erbe der musikalischen Ahnen so wichtig sind. „Ich bin auch der letzte Namensträger und damit der Liquidator einer großen Familie.“ Kinder und Enkel heißen durch Heirat anders. Auch wenn die Hornistendynastie damit aus den offiziellen Registern verschwinden wird: Das musikalische Erbe ist gesichert.

Eine Stiftung, die Michael Schunckes Namen trägt, verleiht seit 2008 den einzigen Preis der Welt, den nur Hornisten erhalten. Das Familienarchiv wird nach Schunckes Tod von der Landesbibliothek Stuttgart weitergeführt. Dort war er vor ein paar Jahren auf den wohl größten Schatz seines Lebens gestoßen.

In einem kleinen Antiquariat fand er eine Notensammlung aus dem 19. Jahrhundert. Die Handschrift erinnerte ihn an Hermann Schuncke. Bis dahin waren nur zwei in Dresden geschriebene Streichquartette des Vorfahren bekannt, der als königlich-preußischer Waldhornist wirkte, bevor er an den sächsischen Hof kam. „Es ist wohl die einzige Sinfonie meines Urgroßonkels“, sagt er. Und ein Werk, das Fachleute begeistert. Die Philharmonie Baden-Baden hat es uraufgeführt und eine CD eingespielt, die jetzt erschienen ist.

Für den Verwalter des Familienarchivs zählt sie zu den schönsten Ergebnissen seiner jahrzehntelangen Forschung.

 

CD Orchestral Music oft the Schuncke Family – Werke von Hugo Schuncke,
Johann Christoph Schuncke und Hermann Schuncke.
Philharmonie Baden-Baden.
Genuin-Classics. Nr. GEN 13820. Preis: 18,90 €.