Sächsische Zeitung, Seite 3, 05.01.2017

Das Glück Freiheit

Sie ertrug Stasi-Verhöre, saß im berüchtigten Knast von Hoheneck und machte im Westen Karriere. Jetzt kämpft Karin Sorger gegen das Vergessen von Unrecht.

Von Tobias Wolf (Text) und Sven Ellger (Foto)

2017-01-05-DasGlückFreiheit_Seite3Die KZ-Aufseherinnen kann Karin Sorger nicht vergessen. Als der sowjetische Film „Vergiss deinen Namen nicht“ im Kino der Strafanstalt Hoheneck läuft, springen zwei ergraute Frauen auf, ballen die Faust und rufen: „Wir würden es immer wieder tun.“ Sie haben im berüchtigtsten Frauengefängnis der DDR nichts mehr zu verlieren. Fast 30 Jahre sitzen sie im Sommer 1977 schon ein. Die eine hat sechs Menschen auf dem Gewissen, die andere zehn. Die Ex-SS-Wärterinnen gehörten zum „Mörderkommando“ in Hoheneck am Rande Stollbergs – darunter sind auch Frauen, die Schwiegermutter oder Kind getötet haben. Karin Sorger, damals 38 Jahre alt, hat niemanden umgebracht. Nach heutigem Verständnis hat sie keine Straftat begangen. Sie ist als „Politische“ in Hoheneck. Ihr Verbrechen: Die Ärztin wollte aus der DDR fliehen.

Die inzwischen 77-Jährige mit den blonden Haaren und dem mädchenhaften Lächeln sitzt an diesem Winterabend in der Bar eines Dresdner Hotels. Es gibt Wasser und Salzstangen. Die Ärztin, Fachgebiet Nieren-Pathologie, mag die Stadt, hat hier viele Freunde aus Uni-Zeiten. In ihrer Stimme ist kein Hass, keine Verbitterung zu spüren. „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut“, zitiert sie den antiken Staatsmann Perikles – der Titel ihres Buches gegen die aus ihrer Sicht verklärende Ostalgie. Tags zuvor ist sie in eine Pegida-Demonstration geraten, deren Protagonisten Diktatur und Unterdrückung der Meinung beklagen und alles viel schlimmer als in der DDR finden. Sorgers Entsetzen ist nicht gespielt. „Das ist doch absolut nicht wahr, haben diese Menschen alles vergessen?“

Sonntag, 6. Februar 1977. Der Boden ist vom Schneeregen matschig. Der Qualm des nahen Kohlekraftwerks zieht über die Autobahn 9 bei Wolfen. Karin Sorger stapft durch den Wald, sucht den Kilometerstein 92 an der Transitstrecke zwischen der Bundesrepublik und Berlin. Dort soll sie die Schleuser treffen. Es ist nicht der erste Versuch. Beim letzten Mal hatte sie ihre achtjährige Tochter Natalie an der Hand. Bei klirrender Kälte ging es durch die Dunkelheit bis zur Autobahn. Aber niemand kam. Nun soll es klappen. Mit einem Lkw.

Seit dem Transitabkommen von 1972 dürfen Laster auf dem Weg zwischen der BRD und Westberlin nicht mehr von DDR-Behörden geöffnet werden. „Anfangs kamen so ganze Container voller Menschen durch“, sagt Sorger. Meist ist es ein Möbel- oder Fischtransporter, der kurz hält, vielleicht eine Panne simuliert. In einer getarnten Ladeluke soll es über die Grenze gehen.

Den grauen Trabant Kombi hat Sorger an einer Müllhalde abgestellt, nicht ahnend, dass sie verfolgt wird. Dem örtlichen Volkspolizisten war das Leipziger Kennzeichen aufgefallen. An der Transitstrecke ist jeder verdächtig, der vermeintlich ziellos rumfährt. Im Polizeikreisamt Bitterfeld wird Einsatzalarm „Transport“ ausgelöst. So steht es in Sorgers Stasi-Akte.

Kilometer 92 findet sie nicht. Sie geht zurück. Am Auto warten zwei Polizisten, fordern sie auf, mitzukommen. „Zur Klärung eines Sachverhalts.“ Statt heimzufahren und letzte Vorbereitungen zu treffen, sitzt Sorger in Bitterfeld fest und versucht, den Republikflucht-Verdacht zu zerstreuen, erzählt von ihrer Scheidung, dem Kind und dass sie deshalb oft umherfahre. Da ist der Operative Vorgang „Doktor“ längst eröffnet. Stundenlange Verhöre folgen. Nachts fliegt die Tür auf, ein aggressiv auftretender Mann fegt die Polizisten mit einer Handbewegung aus dem Raum. „Jetzt kommt die Staatssicherheit.“ Er schreit: „Wollten Sie in die BRD oder nicht?“

Stasi-Gefängnis Roter Ochse, Halle: Die Verhöre gehen ohne Pause weiter. Sie darf nicht essen, schlafen oder zur Toilette, muss sich nackt ausziehen, bekommt Gefängniskleidung. Ein freundlicherer Vernehmer kommt dazu. Einer säuselt, der andere schreit – Psychoterror pur. Die Stasileute sagen, dass Sorger bei einem Geständnis zu ihrem Kind dürfe. Eine Lüge. Sie weiß, dass jeder Fluchtversuch einzeln bestraft wird, gibt einen zu und landet in der Zelle. Zwei mal vier Meter, Liege, Strohsäcke, Schemel und Tisch. Für Hofgänge gibt es einen Soldatenmantel. „Ich wusste, eineinhalb Kilometer von mir entfernt schwenkt mein Ex-Mann in einem Labor seine Reagenzgläser.“ Er kümmert sich nach der Verhaftung um die Tochter.

Sorger denkt kurz an Suizid, aber verwirft den Gedanken. Soll Natalie ohne Mutter aufwachsen? In einem Barkas-Transporter, Aufschrift „Frischer Fisch“, geht es ins Gefängnis nach Leipzig. Dort sieht sie hinter den Stasi-Gesichtern zuweilen menschliche Züge, etwa, als ein Vernehmer zu Disziplin und Sport rät, damit sie nicht ergraut und alles vergisst in der zeitlosen Neonröhrenwelt der U-Haft. Im Mai verurteilt sie das Kreisgericht Leipzig-Mitte wegen Vorbereitung und Versuch des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ zu 18 Monaten Haft.

Weithin sichtbar thront das Schloss über Stollberg. Das schwere Tor zur Hölle von Hoheneck öffnet sich fast geräuschlos. Hier sind Häftlinge auch gefoltert worden, etwa in dunklen Zellen, in die Wasser gepumpt wird, bis man glaubt zu ertrinken. Der Bus passiert dicke Mauern, Gräben, Stacheldraht, Hunde. „Wer hier reingeht, glaubt, er kommt nicht wieder raus.“ Sorger kommt in eine Zelle für 21 Frauen. Bodenschläfer heißen jene, die sich in den engen Raum zwischen den Stockbetten zwängen. 1 600 Gefangene sind in Hoheneck, Platz ist eigentlich nur für 500.

Sorger stockt kurz in ihrem Bar-Sessel, erzählt dann vom Besuch ihres Leipziger Ex-Chefs. Der damals nachfühlen konnte, was in ihr vorging. Vier seiner Söhne saßen ebenfalls wegen Republikflucht. Vor der Verhaftung machte Sorger gerade Karriere in der Wissenschaft. Als sie ihren Mentor hinter einer Glasscheibe in Hoheneck wiedersieht, hat er ihre gerade veröffentlichte letzte Uni-Arbeit dabei. „Er wollte mir Mut machen, und ich habe geheult“, sagt sie heute. „Ich dachte damals, was für ein Unterschied zwischen der Verfasserin dieser Arbeit und der Frau, die im Knast im Drei-Schicht-System täglich Gummiränder an 460 Paar halterlose Strümpfe nähen muss“, sagt sie mit leiser Stimme und macht eine Pause, als müsste sie die Situation noch einmal verdauen. Es ist zwei Uhr morgens. Nur noch eine Handvoll Gäste sind in der Bar. Die Salzstangen hat Sorger seit Stunden nicht angerührt, gestattet sich nur hin und wieder einen Schluck Wasser.

Karin Sorger hätte im Westen aufwachsen können. Die Mutter stammt aus Hessen, gibt das Kind aber in Magdeburg zur Adoption frei. Mit sieben merkt die Kleine, dass etwas anders ist, Kinder hänseln sie auf der Straße. Sie findet einen Ahnenpass und erzählt nichts davon. „Ich habe sie geliebt, auch wenn sie nicht meine richtigen Eltern waren.“ Die Adoptivmutter stirbt, als Sorger zehn ist. Der Vater erzieht liberal, will eine freiheitlich denkende Tochter. Nach dem Abitur mit Auszeichnung darf Sorger studieren, obwohl sie Unternehmerkind ist. „In der Schule war ich überzeugt, dass wir in der DDR etwas Neues aufbauen, beeinflusst von Legenden.“ Wie der von Adolf Hennecke, der fast das Vierfache der üblichen Tagesnorm an Steinkohle in einer Schicht förderte. „Arbeitern soll es gut gehen, das denke ich bis heute.“

Die Praxis schleift die Ideale. Die erste Zeit des Medizinstudiums an der Uni Leipzig verbringt sie bei Arbeitseinsätzen. Braunkohle auf Rüttelbändern sortieren, von denen ungefiltert Dreck aufsteigt. Die privilegierten Studenten sollen die Produktion kennen. Auch zur Ernte müssen sie ran. In der Uni geht es immer auch um Marx und Engels. Sorger bewohnt ein Zimmer im Leipziger Waldstraßenviertel. Den Wirtsleuten gehört ein Kunstsalon an der Oper. 1961 herrscht an einem Frühlingstag plötzlich Aufruhr. Der Vermieter soll von der Stasi abgeholt werden. Die Familie packt das Nötigste, flieht nach Westberlin. Kurz darauf mauert sich die DDR ein. Sorger erlebt den 13. August 1961 fassungslos vor dem Kofferradio auf einem Campingplatz in Mecklenburg. An der Uni gibt es plötzlich intensiven Politunterricht. Vor der Abschottung der DDR war sie ab und an auf dem Kurfürstendamm, im Kino oder Schuhe kaufen, die es für ihre Füße, Größe 42, im Arbeiter- und Bauernstaat nicht gab.

Gut 15 Jahre später habe die Stasi gefragt: „Wann haben wir Sie eigentlich verloren?“ Am Tag des Mauerbaus. „Bis dahin war ich freiwillig geblieben, eingesperrt sein wollte ich nicht.“ Sorger richtet sich kerzengerade in ihrem Bar-Sessel auf. Das mädchenhafte Lächeln ist aus ihrem Gesicht verschwunden. Die Lust zum Widerspruch blitzt aus den Augen. Sie wollte eigentlich gar kein Buch schreiben, weil es schon so vieles zu Hoheneck gibt. Aber Sorger fürchtet, dass vieles in der Rückschau nicht mehr wahrgenommen wird. Dagegen stemmt sie sich, auch in dieser Nacht an der Dresdner Hotelbar. Deshalb geht sie als Zeitzeugin in Schulklassen.

Examen, Promotion, Assistentenstelle an der Uni Leipzig, Hochzeit: Für ein paar Jahre arrangiert sich Sorger mit der DDR. 1968 kommt Tochter Natalie zur Welt. Kurz davor wird der Prager Frühling von Ostblock-Truppen niedergeschlagen. Staatliche Propaganda nervt sie immer mehr. Sorger singt weinend mit, wenn in der Oper „Nabucco“ der „Freiheitschor“ erklingt, hört von Kollegen, denen auf abenteuerliche Weise die Flucht gelingt.

1972 kommt die Scheidung. Danach denkt sie immer öfter an Flucht. „Mir war klar, wenn ich das Leben meiner Tochter und meins ändern will, muss ich es selbst in die Hand nehmen.“ Sie versucht, Zimmer zur Messe zu vermieten, in der Hoffnung, dass sie ein Westler rausholt – egal ob mit gefälschtem Pass oder fiktiver Heirat. Dann trifft sie auf einen Kollegen, der mit einem Schleuser-Lkw fliehen will. Im Frühjahr 1976 wird sie ins Dekanat der Uni bestellt. Die Stasi will verstärkt Ärzte als Inoffizielle Mitarbeiter anwerben. „Ich hab nein gesagt, weil mein Vater mir immer gesagt hatte: Mach nie bei einem Geheimdienst mit“, sagt Sorger und gießt sich Wasser ein. Seit Stunden spricht sie über ihr Leben in der DDR, aber von Müdigkeit ist nichts zu spüren. Die Details, die Leidenschaft, Lachen und Traurigkeit. Als wäre sie immer noch mittendrin.

In Hoheneck hofft Karin Sorger, dass sie in den Westen entlassen wird. Die Stasi startet einen letzten Versuch, bietet ihr an, dass sie wieder in ihrem Beruf arbeiten kann, wenn sie bleibt. An einem kalten Morgen Ende September 1977 wird beim Frühstück plötzlich ihr Name aufgerufen. Im Speisesaal herrscht Totenstille, die Blicke der Mithäftlinge folgen ihr beim Gehen. In einem Verwahrraum trennt sie private Dinge von Anstaltssachen. Vorher hatte sie gehört, dass dies bei Entlassungen üblich sei, will es aber nicht glauben. Mit einem Bus geht es schließlich ins Gefängnis Chemnitz-Kaßberg – bis 1989 die Drehscheibe für den Häftlingsfreikauf durch die BRD. Von 1962 bis zum Ende der DDR war es für über 30 000 Menschen das Tor in die Freiheit. Der Menschenhandel spülte am Ende mehr als drei Milliarden D-Mark in die Kassen der SED-Diktatur.

Gut zwei Wochen verbringe man am Kaßberg, bis man freigelassen wird, hieß es in Hoheneck. „Das Essen war besser, damit man im Westen optisch nicht ganz so kaputt ankam“, sagt sie. Woche um Woche vergeht. Ein letztes Gespräch mit der Stasi . Karin Sorger soll einen Ausreiseantrag ausfüllen. „Sie können gehen, aber das Kind bleibt hier.“ Der Gefängnisaufenthalt hat sie abgehärtet, sagt sie heute. Das habe ihr Kraft für die Antwort gegeben; „Mein Kind kommt mit.“ Nur widerwillig habe der Stasi-Mann den zweiten Antrag über den Tisch geschoben. Eine Garantie war das nicht.

Die letzten Stunden in der DDR wartet Sorger in einem Bus mit Ostberliner Nummernschild. Der Rechtsanwalt und Unterhändler Wolfgang Vogel, teurer Anzug, Goldrandbrille, ist da, warnt davor, mit der Westpresse zu reden, sonst dürften die Kinder der Freigekauften nicht ausreisen. Vogel verliest eine Liste mit Kindernamen, die „auf dem Verhandlungsweg“ nachkommen sollen. Sorgers Tochter Natalie ist darunter. Erleichterung. Vogels Mercedes voran, rollt der Konvoi mit zwei Bussen zur Grenze, passiert sie ohne jede Kontrolle. „Wie im Krimi haben sich nach der Grenze die Nummernschilder gedreht und hatten plötzlich Gießener Kennzeichen.“

Vier Monate später kann Karin Sorger ihre Tochter abholen, muss dafür persönlich im Leipziger Rathaus erscheinen. Mit dem Nachtzug kommt sie in der Stadt an, die sie zuletzt in Handschellen sah. Mutter und Tochter liegen sich weinend in den Armen, bevor es zurückgeht in die Freiheit. Als Alleinerziehende und Wissenschaftlerin fängt Karin Sorger im Westen ganz von vorn an. Im Vergleich zu ihrem Leben in der DDR muss sie sich nun gegen eine männerdominiertere Ärztewelt durchsetzen. 1987 wird sie zur Professorin ernannt, später Chefärztin im schwäbischen Göppingen. Erst zum Ende der DDR-Zeit besucht sie erstmals wieder die Heimat, trifft Ex-Mann und Studienkollegen, feiert mit Freunden Silvester.

Der Barkeeper hat schon die ersten Stühle hochgestellt, als Sorger auf die Uhr guckt. Sie könnte noch weiterreden, bis die Sonne wieder aufgeht. Der Ernst ist aus ihrem Gesicht gewichen, das mädchenhafte Lächeln ist wieder da. Könnte sie ihr Leben noch einmal leben, es würde wohl genauso verlaufen, sagt sie mit leiser Stimme. Sorger hat ihren Frieden gemacht. Mit Ihrer Vergangenheit, der Stasi und der DDR, die niemanden rauslassen wollte.

Davon hat sie erst vor ein paar Tagen im Frauen-Klub ihrer Walheimat Baden-Baden erzählt und vom „Kampf gegen das Vergessen“. Es ist eine Mission gegen die Verklärung der Geschichte. Weil die Freiheit für Karin Sorger nie ganz selbstverständlich geworden ist, sondern etwas, worum gekämpft werden muss – gerade heute und ganz ohne Hass.

„Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit“ von Karin Sorger ist unter der ISBN-Nummer 978-3-86933-151-5 im Helios Verlag erschienen und kostet 18 Euro.