Sächsische Zeitung, Seite 3, 18.04.2017
Wenn die Seele stirbt
Dreimal war Sandro Strack mit der Bundeswehr in Afghanistan. Dass ihn das traumatisiert hat, wollte sich der Bautzner lange nicht eingestehen.
Von Tobias Wolf
Als der Fotoblitz aufleuchtet, zuckt Sandro Strack zusammen. Noch Sekunden starrt er mit weit geöffneten Pupillen in das dunkle Gehäuse. Dann springt der Blick zur Lampe über dem Tisch. Verharrt, als versteckt sich hinter dem warmen gelben Licht mehr, als Augen sehen können. Eine fremde und gefährliche Welt, die hierzulande nicht viele kennen, die aber das Leben des heute 34-Jährigen bis heute beeinflusst. Er hat sie gesehen, gehört und gerochen. Als Soldat in Afghanistan. Seither erschrickt er bei jedem Blitzlicht oder Knall, auch wenn es nur geplatzte Reifen oder Silvesterknaller sind. „Das klingt nach Schüssen, nach Explosionen, nach Lebensgefahr.“ Wenn auf dem Grill Steaks brutzeln, denkt Strack an verbranntes Menschenfleisch. Es sind Eindrücke eines Krieges, den in Deutschland lange keiner so nennen wollte. Dreimal war der Bautzner am Hindukusch. Erst viel später ist klar, dass er davon krank geworden ist, ein Trauma davongetragen hat.
Der Fotoblitz zerrt ihn für Sekunden zurück nach Kabul. Dabei sitzt er gerade an einem vertrauten Ort. Die Lampe hängt im Bautzner Restaurant „Zum Haseneck“. Hier hat er einst seine Kochlehre gemacht. Von hier aus sollte es in die große weite Welt hinausgehen – als Koch auf einem Kreuzfahrtschiff. Hinaus ging es, nur anders als gedacht. In Sandro Stracks Gesicht haben sich Furchen gegraben, die Augen scannen immer wieder den Raum, die Eingangstür. Immer alles im Blick haben. Die Hände fassen ineinander, lösen sich. Immer wieder. Ein junger Mann, der ernster zu sein scheint als viele Altersgenossen.
Es ist der 8. September 2006, als Sandro Strack einen Fuchs-Panzer steuert. Über den Highway rollt der kleine deutsche Konvoi vom Stützpunkt Camp Warehouse beim Flughafen ins Zentrum von Kabul. Im Isaf-Hauptquartier soll die Truppe neue Frequenzen für den Funkverkehr zugeteilt bekommen. Die Männer sind spät dran, weil Strack seinen Glücksbringer vergessen hatte, ein Silberanhänger seiner Oma in Form einer Amsel. Strack ist Fernmeldesoldat, muss sicherstellen, dass die Funkanlagen und die Satellitenkommunikation einwandfrei klappen.
Vor dem Ziel geht es durch den Massoud-Kreisverkehr neben der US-Botschaft, nicht weit vom Hauptquartier der Koalitionstruppen entfernt. Die Fahrten sind nervenaufreibend, die Soldaten jedes Mal froh, sicher angekommen zu sein. „Ich dachte noch, gleich sind wir da“, sagt Strack. „Dann gab es einen riesigen Knall.“ Die Druckwelle hebt den Panzer an, drückt die Männer aus den Sitzen. Dahinter klafft ein Loch in der Straße. Daneben brennende Wrackteile eines Autos, blutende, verstümmelte Körper, Verletzte. Schreie sind zu hören. Das blanke Chaos.
Über Funk kommt der Befehl nicht anzuhalten, sondern weiterzufahren. Die Beine zittern, das Herz rast, aber Strack gibt Gas. Er habe noch nie so viel Angst gehabt. Hinterher heißt es, Selbstmordattentäter hätten TNT gezündet. 16 Menschen sind tot, darunter zwei US-Soldaten. Strack und seine Kameraden müssen im Hauptquartier bleiben, bis die Lage wieder sicher ist. Auf dem Rückweg sind die Männer still. „Den Tod vor Augen wird man schweigsam.“ Jedes Taxi, das sich auffällig bewegt oder direkt auf den Konvoi zufährt, ihm zu nahe kommt, sorgt für Adrenalinschübe. Jeden Moment kann es wieder einen Anschlag geben. Vier Tage zuvor riss eine Explosion nicht weit vom letzten Anschlagsort einen britischen Gefreiten und vier afghanische Zivilisten in den Tod.
Das Erlebte verändert alles, Soldatenromantik und Abenteuergeist sind dahin. Dabei hat Strack bis zu diesem Zeitpunkt alles weggesteckt. Wie ein paar Wochen früher, als sie auf Patrouillenfahrt beschossen wurden. Nun sinniert er über die Leichen, die er jeden Tag am Straßenrand in der Sonne liegen sieht, Menschen, die mit Kopfschüssen getötet wurden oder vergewaltigte und totgeschlagene Frauen. Bestialische Gewalt, die seine Vorstellungskraft übersteigt. Die posttraumatische Belastungsstörung wird erst Jahre später sichtbar.
Sandro Strack ist zum Zeitpunkt der Taliban-Attacke fast vier Jahre bei der Bundeswehr. Im oberbayerischen Murnau war er für die Grundausbildung der Rekruten zuständig. „Wir haben nicht mehr wie im Kalten Krieg trainiert, sondern Szenarien geübt, wie sie in Auslandseinsätzen vorkommen“, sagt der Ex-Unteroffizier. „Da ging es ums Minensuchen oder wie man Checkpoints aufbaut und Kontrollen macht.“
Mit einem Freund will Strack in einen Auslandseinsatz, weil „man nicht ausbilden kann, was man nicht gemacht hat“, sagt er. Er denkt dabei an das Kosovo, aber Gebirgsfernmelder werden woanders gebraucht. Als sich der Freund aus Liebeskummer umbringt, meldet sich Strack allein – und erhält einen Einsatzbefehl für Afghanistan. „Da habe ich mich erst mal hingesetzt, weil ich das überhaupt nicht erwartet hatte.“ Aber Befehl ist Befehl.
Auf Truppenübungsplätzen lernt er, was gebraucht wird, was bei Geiselnahmen wichtig ist, worauf die Soldaten achten müssen. Wie klingt der Untergrund unter den Reifen des Autos, welche Richtung nehmen sie, wie viel Zeit brauchen sie? Oder wie man Einzelverhöre übersteht. Nur, es ist trotz Übung Theorie. Wie die Realität am Hindukusch zu bewältigen ist, die Psyche geschützt werden kann, all das lässt sich nicht einfach erlernen. Auch nicht, wie man beim Wachestehen am Tor des Stützpunkts zuguckt, wie Menschen sterben, weil die Soldaten nicht eingreifen dürfen.
Überwachen, Sichern, Ausbilden lautet der Auftrag der Bundeswehr. Posten oder Fahrzeuge dürfen nicht verlassen werden ohne Befehl. Strack sieht, wie zwei Männer auf eine Mine treten und verbluten, bis ein Krankenwagen kommt. Er sieht bei Patrouillenfahrten, wie Kinder von einem brutalen Vater zusammengeschlagen werden und irgendwann aufhören zu schreien. Eingreifen verboten. Strack lernt im Isaf-Hauptquartier Journalisten kennen, die für die Deutsche Welle arbeiten – ein paar Wochen später werden sie im Norden des Landes erschossen. Das Gehirn ist überflutet von zu vielen negativen und emotional aufreibenden Eindrücken. „Als Soldat willst du ja stark sein, weil wir dazu da sind, das Land zu verteidigen“, sagt er am Gasthaustisch in Bautzen und knetet seine Hände. Der Blick bleibt an der Tür hängen.
Das Selbstverständnis damals musste irgendwann wegbrechen. Das weiß er heute. Es hat ihn seine Gesundheit gekostet und sein Familienleben. Kurz vor Weihnachten 2006 ist Strack wieder in seiner Kaserne im Voralpenland und fährt heim nach Bautzen. „Ich liebe die Adventszeit, aber damals konnte ich damit nichts mehr anfangen.“ Bunte Laternen und Kerzen erinnern an Einsatzlichter von Militärfahrzeugen, der Geruch der Bratwürste an den Tod. Enge, die drängende Menge auf dem Markt: Strack fühlt sich umzingelt, eingekesselt – wie, als Kugeln gegen die Stahlhaut des Fuchs-Panzers schlugen oder Raketen über das Feldlager flogen. Silvester erträgt er die Knallerei nicht, weil dieser Lärm nichts mehr mit Spaß zu tun hat. Die Beziehung zu seiner Freundin leidet darunter, ist bald vorbei. Auch die nächste hält nicht lange. Nur in der Kaserne fühlt sich Sandro Strack wohl, mit der anderen Welt jenseits der Armee kommt er schon nach seinem ersten Einsatz nicht mehr richtig zurecht. In den Träumen tauchen Bilder von Sterbenden auf, von brechenden Augen und schwallartig blutenden Wunden.
Den Begriff posttraumatische Belastungsstörung hört er erstmals im Januar 2007 bei einem Seminar. Ein Bundeswehrarzt beschreibt Symptome, auf die die Soldaten achten sollen, und fragt Strack, ob er sie kennt: Nervosität, Schlaflosigkeit, Albträume. Er sei nicht ganz bei der Sache gewesen. „Ich dachte, es geht mir gut“, sagt er heute. Damals geht er wieder nach Afghanistan, dient ab Frühjahr 2008 in Feyzabad, einem unwirtlichen Außenposten im Nordosten. Fast täglich gibt es Raketenangriffe. „Wir konnten während der Europameisterschaft kein Spiel in Ruhe zu Ende gucken“, sagt er und lächelt das erste Mal. „Wir mussten immer in unsere Schutzräume rennen.“ Nach vier Monaten in der „Hochgebirgshölle“ geht es heim.
Die Auslandseinsätze haben finanziell etwas gebracht. Zusätzlich zum normalen Sold gibt es in Afghanistan 92 Euro pro Tag dazu, mit der sich verschlechternden Sicherheitslage steigt die Auslöse später auf 110 Euro. „15 000 Euro zusätzlich nach ein paar Monaten ist schon ne Menge Geld, vor allem für jemanden, der aus einer Lehre mit 300 Euro Lohn kommt.“ Auch des sicheren Jobs wegen will Strack die Karriere bei der Bundeswehr weiterverfolgen. Die Anzeichen seiner überforderten Psyche ignoriert er und entscheidet sich ein drittes Mal für Afghanistan. Nur: Die Sicherheitslage hat sich im Frühjahr 2009 verschlechtert. Immer wieder gibt es Angriffe auf Feldlager, Konvois, Patrouillen.
Es ist das Jahr, in dem ein deutscher Verteidigungsminister nicht mehr nur von einem Hilfseinsatz, von Schulen und Brunnenbau spricht, sondern kriegsähnlichen Zuständen. Es ist auch das Jahr, in dem Kampfflugzeuge auf Befehl eines deutschen Kommandeurs Tanklaster bombardieren und viele Zivilisten töten.
Im Frühsommer 2009 steht Sandro Strack vor den Särgen von gefallenen Kameraden, mit denen er ein paar Wochen zuvor noch Gulasch aus der Feldküche gegessen hatte. Er hat seine Freundin vor Augen, die auch Soldatin ist und gerade im Kosovo stationiert. Er denkt an die Familien der Getöteten. Als Vorgesetzter darf er nach außen keine Schwäche zeigen, glaubt er. Im Inneren ist längst nicht mehr viel in Ordnung. Er ist müde, unkonzentriert und gereizt. Doch die eigentliche Katastrophe steht Strack noch bevor: Das Ende seines Lebens, wie er es kennt.
Kaum im gemeinsamen Zuhause im fränkischen Miltenberg, streitet er immer öfter mit seiner Freundin, die ihn irgendwann einen Ordnungsterroristen nennt. Ordnung ist etwas, an das man sich klammern kann, wenn Gewissheiten weggebrochen sind. Struktur, die Halt gibt. „Da hat mich jede rumliegende Socke gestört.“ Die Dienstzeit geht zu Ende, eine Fortbildung an einer Hotelfachschule steht an. Der erste Sohn ist unterwegs. Im Fernsehen kann er da schon keine Reportage über Afghanistan mehr sehen oder Kriegsfilme gucken, ohne dass blutige Bilder sich im Kopf ausbreiten und nicht mehr weggehen. Schlafen kann er sowieso nicht mehr richtig.
Als Strack kapiert, dass es seine Einsätze sind, die ihn so krankmachen, ihm jede Alltagssicherheit rauben, ist es fast zu spät. Die Bundeswehr ist nicht mehr für ihn zuständig, aber noch immer glaubt er, es allein bewältigen zu können, was durch seinen Kopf spukt. Strack versucht eine Therapie, aber nimmt die Sache nicht ernst genug. Stattdessen stürzt er sich in Arbeit, an einer Autobahnraststätte, als Außendienstmitarbeiter eines Handelsunternehmens. Nur Autofahren ist Stress pur. Fährt ein anderer Wagen zu dicht auf, befällt ihn Panik. „Ich musste dann immer an den Straßenrand fahren, weil ich nicht mehr konnte“, sagt er. Denn er sieht in den Autos afghanische Taxis, die von potenziellen Selbstmordattentätern benutzt werden.
Die Eltern in Bautzen lässt Strack lange im Unklaren über seinen Seelenzustand. Während der Einsätze sagt er nicht, wie gefährlich sie sind. Als er Job und Freundin verliert, seine Söhne nur noch selten sehen kann, bricht er endgültig zusammen. Die Eltern fangen ihn auf, holen ihn zurück ins heimische Kinderzimmer.
Jetzt macht Sandro Strack wieder Außendienst für einen Lebensmittelhändler, der Gastronomen beliefert. „In dem Bereich kenne ich mich aus, das hab ich gelernt“, sagt er und lächelt ein bisschen. Nach einer weiteren Therapie kann er seine Gedanken stoppen, den Kreislauf der Bilder und Erinnerungen durchbrechen. Ganz los wird er das trotzdem wohl nie mehr. Sandro Strack kann wieder kämpfen, für sich selbst. Er hofft, dass er vielleicht als Zivilbeschäftigter zur Bundeswehr zurück kann. Es wäre ein sicherer Job. Immerhin hat er seine Seele für das Land kaputt gemacht und ist einer von vielen Veteranen, die kaum Beachtung finden.
Das Buch „Ich hatte ein Leben“ von Sandro Strack ist im Riva Verlag erschienen und kostet 17,99 Euro.