Sächsische Zeitung, Seite 3, 13.07.2017
Erste Hilfe für die Seele
Der Tod kommt oft unerwartet. Ein Schock für die Hinterbliebenen. Eine junge Frau aus der Lausitz, versucht zu trösten. So wie nach dem Busunfall auf der A 9 vergangene Woche.
Von Tobias Wolf (Text) und Uwe Söder (Foto)
Der unbeschwerte freie Tag endet, als das Handy piept. Eine SMS. Sandra Ebermann ahnt, dass die Mitteilung etwas mit den Nachrichten zu tun haben könnte. Seit über einer Stunde flimmern Bilder eines brennenden Reisebusses auf der Autobahn 9 in Bayern über die Bildschirme. Die Verkehrsmeldungen im Radio warnen vor einem Stau. Von Bergungsarbeiten nach einem schweren Unfall ist die Rede. 18 Menschen werden das Busunglück bei Münchberg in Oberfranken nicht überleben. Als die SMS der Görlitzer Landkreisverwaltung am Montagvormittag voriger Woche eingeht, ist nur klar: Ein Teil der Toten stammt aus Sachsen. Sandra Ebermann soll sich bereithalten. Es ist eine Vorwarnung, dass die Notfallseelsorgerin aus Ebersbach-Neugersdorf vielleicht irgendwann im Laufe des Tages Todesnachrichten überbringen und Angehörige trösten muss. Erste Hilfe leisten für die Seele.
„Nach so einer SMS stehe ich immer unter Strom“, sagt die 31-Jährige. „Man weiß ja nie, was einen erwartet.“ Wer sind die Angehörigen? Wie reagieren sie auf die Nachricht, dass ein lieber Mensch nicht mehr nach Hause kommen wird? Sind sie apathisch, aggressiv, fangen an zu weinen? „Die Menschen werden plötzlich aus der Normalität gerissen, sind vielleicht rat- und hilflos, machen sich heftige Vorwürfe oder verlieren den Lebensmut.“ Momente, die jeden treffen können.
Der Busunfall liegt schon ein paar Tage zurück, als Sandra Ebermann von ihrem Einsatz erzählt. Sie sitzt vor einem Café an einer Ausfallstraße im Bautzner Süden, vor sich einen Latte Macchiato. Über dem Stuhl hängt die rote Jacke mit der Aufschrift Kriseninterventionsteam. „Hätte mich mit 16 einer gefragt, ob ich mal so etwas mache, hätte ich Nein gesagt, auch weil ich selbst sensibel und nah am Wasser gebaut bin“, sagt die junge Frau. „Aber es geht, weil ich die Menschen nicht kenne.“ Aus Selbstschutz muss sie ihre eigenen Gefühle außen vor lassen. Mitgefühl zeigen darf und soll sie aber dennoch. Würde sie die Person kennen, wäre der Fall allerdings tabu.
150 Ehrenamtliche sind für das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in Sachsen in der psychosozialen Notfallversorgung im Einsatz, die sich in einer Art Erste Hilfe für die Seele etwa um die Hinterbliebenen von Unfalltoten oder Gewaltopfern kümmern.
An jenem Montag wollte Ebermann in aller Ruhe mit ihrem Mann shoppen gehen. Er arbeitet nachts, die wenige gemeinsame Zeit ist kostbar. Aber nach der SMS stellt sie sich immer wieder die gleiche bange Frage: Kommt da jetzt was oder nicht? Das Paar fährt heim, holt den gemeinsamen Sohn ab und verbringt den Nachmittag im Garten mit Spielen und Rasenmähen. Derweil sickern immer mehr Informationen aus Bayern durch. Mehr als acht Stunden nach der Vorwarnung wird es ernst. Ebermann bekommt einen Anruf. Die Details kennt sie längst aus den Nachrichten. Sie soll Polizisten unterstützen, wenn die Hausbesuche bei Angehörigen machen. Treff ist in Seifhennersdorf, ein paar Kilometer vom eigentlichen Ziel entfernt. Polizisten, Kriminaltechniker, Notfallseelsorger.
Es gibt eine Vorbesprechung. Wer fährt wohin? Was kann zu diesem Zeitpunkt sicher gesagt werden, was auf keinen Fall? Nicht zu negativ, aber auch nicht zu positiv. Ein Spagat. „Man muss sehr vorsichtig sein, darf nichts versprechen“, sagt Sandra Ebermann. „Wir geben auch keine Hoffnung.“ Die Notfallseelsorger des DRK kommen nur einmal. Sie trösten, geben Tipps, wie es weitergeht, Telefonnummern von Vereinen und Psychologen. Alles was Menschen in einer niederschmetternden Situation brauchen könnten. „Ihr soziales Netzwerk wie Freunde und Familie müssen die Angehörigen aber selbst aktivieren, durch einen Anruf, im Idealfall noch in meinem Beisein“, sagt die Seelsorgerin.
21 Uhr. Ebermann, ein Kollege und zwei Polizisten stehen vor dem Haus der Familie und beobachten. Ist es ruhig? Spielt sich drinnen etwas ab? Erst dann klingeln sie. Die Kriminalisten zeigen ihre Ausweise. „Wir hätten ein paar Fragen.“ Zur Identität eines verstorbenen Unfallopfers aus dem Bus. Ebermann beobachtet. Sie muss schnell einschätzen, wie die Reaktion sein könnte. Man müsse sehr vorsichtig sein. Erst zuhören, dann reden. Manchmal heißt es schon an der Tür: „Ihr braucht nicht reinkommen.“ Dann müssen die Polizisten alleine rein.
Nachrichten, Anrufe bei der Polizei – die betroffene Familie, ein Paar um die 50 und die Frau des Toten, weiß an diesem Montagabend längst Bescheid. „Sie haben gefasst gewirkt und konnten mit der Situation umgehen“, sagt Ebermann. Die Familie habe erzählt, dass der betagte Vater allein an den Gardasee wollte. Die Polizisten bitten um persönliche Dinge. Haarbürste, Unterwäsche, Zahnbürste. Möglichst viele verschiedene Gegenstände, um DNA-Spuren zu ermitteln und damit die sterblichen Überreste zweifelsfrei zuordnen zu können. „Wir haben eine Art Aufgabenteilung“, sagt Ebermann. „Die Polizisten sind die Bösen, weil sie die schlimme Nachricht überbringen, wir die Guten, weil wir trösten.“ Während ihr Kollege die Beamten bei der Proben-Entnahme begleitet, setzt sich die junge Frau zu den Angehörigen ins Wohnzimmer. Die gewohnte Atmosphäre ist wichtig, der kleine Tisch, die Couch. Es soll ein Schutzraum sein. Ebermann hat dann auch gegenüber den Kriminalisten das letzte Wort. Sind die Hinterbliebenen überfordert, versucht sie, die Menschen aus der Situation herauszunehmen, macht eine Pause. Als Notfallseelsorgerin muss sie immer den Blick dafür haben.
Inzwischen rührt Sandra Ebermann in ihrem längst erkalteten Kaffee. Durch die rechteckige randlose Brille mit den kleinen Glitzersteinchen geht der Blick auf die Hauptstraße, auf die bunte Blumenwiese dahinter, in den blauen Himmel hinein. Ein Rettungswagen fährt mit Blaulicht vorbei. Ein alltäglicher Anblick für Ebermann, die in der Notaufnahme des Klinikums Oberlausitzer Bergland in Ebersbach arbeitet. In ein paar Stunden beginnt dort ihre Schicht. Die Notlagen von Hinterbliebenen sind ihr privates Thema. Notfallseelsorge und Notfälle im Krankenhaus haben sie verändert, sagt sie. Das Leben hat einen anderen Wert. Sie liebt die kleinen Dinge, Humor, die Freuden des Alltags, für die man dankbar sein müsse. Gesundheit, Liebe, Partnerschaft. Das gibt Halt.
Sandra Ebermann hat Rituale gefunden, die sie durch Situationen tragen, die die meisten Menschen wohl nicht einmal ertragen könnten. „Mein Partner spielt eine sehr große Rolle“, sagt sie. „Mir ist wichtig, dass wir uns abends im Bett sagen: Ich liebe dich, es ist alles in Ordnung.“ Liebevoller Umgang bedeute ihr mehr als früher. Dass ihr Mann nachfragt, wie es ihr geht, sie von ihm wissen will, wie der Tag war. Dass man früh ohne Streit aus dem Haus geht. „Ohne ihn könnte ich all das nicht durchstehen.“ Überhaupt die Familie. Die Eltern, die den Kleinen nehmen, wenn wieder plötzlich ein Einsatz ansteht.
Ebermann sagt, sie trenne das Ehrenamt als Notfallseelsorgerin konsequent von allem anderen, würde auch nie in Dienstkleidung in ihre Wohnung gehen. Aus Prinzip. „Ich muss mich schützen.“ Es sind zwei Sphären, die sich zwar nicht überschneiden aber doch berühren. „Die Angst um die Familie ist durch meine Erfahrungen stärker geworden, auch um unser Kind – mehr, als ich es mir vorstellen konnte.“ Das wirke sich auf die Erziehung aus. „Wenn wir unterwegs sind, sage ich: Bleib auf der Seite, geh mit der Mama, damit nichts passiert.“ Deshalb sind Kinder eine Grenze, vor allem die kleinen. „Wenn Kinder die Opfer sind, lehne ich den Einsatz ab, das kann ich einfach nicht.“ Sie hätte wohl immer ihren Dreijährigen vor Augen.
Häufig tröstet Ebermann auch Angehörige nach dem Suizid eines geliebten Menschen. Wie jüngst einen jungen Vater und seine beiden Kinder, sieben und elf Jahre alt. Die Mutter der beiden hatte sich das Leben genommen. Als Ebermann zu der Familie kommt, ist die Verstorbene noch im Haus. Dann ist Fingerspitzengefühl gefragt. „Wenn die Kripo da ist, schaue ich mir das Opfer an und schätze ein, ob es die Angehörigen noch einmal sehen können, weil das Abschiednehmen sehr wichtig ist.“ Das sei auch bei dem Suizid so gewesen. Von einem Kerzenmeer umrahmt sei die Tote gewesen. „Ich wollte, dass die Kinder sich von ihrer jungen Mutti verabschieden können.“ Ein Fall, der Ebermann immer noch nahegeht. „In manchen Fällen sage ich der Familie aber auch: Behalten Sie den Menschen so in Erinnerung, wie sie ihn kennen, nehmen sie Fotos.“
Wie nach dem Busunfall auf der A9. Im Wohnzimmer der Familie sei es ganz ruhig gewesen. Bis nachts halb zwölf war Sandra Ebermann vor Ort. Erst dann hatte sie das Gefühl, gehen zu können.
Oft stellten Angehörige die Frage nach dem Warum. Warum musste ein lieber Mensch sterben? „Das lassen wir einfach im Raum stehen, weil das niemand beantworten kann“, sagt Sandra Ebermann. „Manchmal ist es schwerer, die Situation auszuhalten und nichts zu sagen als etwas zu sagen.“ Auch die Notfallseelsorger müssen am Ende verarbeiten, was sie erleben. „Ich setze mich nach solchen Einsätzen ins Auto und dreh die Musik ganz laut, das hilft mir.“ Und die Nachbesprechung mit Kollegen. Auch ein Ritual, das die eigene Seele schützen soll. „Wir sagen uns: Es ist wichtig, dass es uns gibt, dass wir da sind, um Menschen wieder zu ersten Alltagshandlungen zu animieren und ins normale Leben zu bringen.“