Sächsische Zeitung, Seite 3, 10.02.2017

Keine Notbremse im System

Ein Junge wurde bei der Dresdner Parkeisenbahn sexuell missbraucht. Seit Jahren gab es Hinweise auf den Tatverdächtigen. Er soll nicht der Einzige sein, der Kindern zu nahe trat.

Von Tobias Wolf

2017-02-10-ParkeisenbahnSeite 3Unschuldiger Schnee bedeckt das anonyme Urnenfeld auf dem Dresdner Heidefriedhof. Die parkartige Anlage ist heute verwaist, nur ein Hundebesitzer dreht seine Runde. Irgendwo hier, bewacht von alten Kiefern, ruht Tilo H. Zu seiner Beerdigung hatten noch Gestecke auf dem Grab gelegen. „Ein letzter Gruß“ stand darauf oder in „In dankbarer Erinnerung“. Tilo H. war Parkeisenbahner in Dresdens Großem Garten. In dieser stadtbekannten Institution war Tilo H. für manche fast so etwas wie ein Idol. Seine dunkle Seite kannten nur wenige.

Im Mai 2016 brachte er sich um. Mit nur 38 Jahren. Den Grund des Selbstmords ahnten damals höchstens ein paar Offizielle der staatlichen Schlösserverwaltung und ein gutes Dutzend Mitglieder des Parkbahnvereins. Tilo H. soll einen heute 17 Jahre alten Jungen sexuell missbraucht haben. Jahrelang. Bis sich das mutmaßliche Opfer Henry L.* seiner Familie offenbarte, bei der Polizei meldete und die Parkeisenbahn-Verantwortlichen im Großen Garten informierte. Sie suspendierten Tilo H. umgehend. Es gab eine Strafanzeige.

Die für die Parkanlage zuständige Schlösserverwaltung hält das lange unter dem Deckel. Erst kurz vor Weihnachten kommt es heraus. Eilig wird eine Pressekonferenz einberufen. Es sei der einzige bekannte Fall von strafrechtlichem Belang, heißt es. Vorstandsmitglied Jens Großmann vom Parkeisenbahnverein sagt, man habe H. darauf hingewiesen, sich für Privatausflüge mit den Kindern Unterschriften der Eltern geben zu lassen. „Ansonsten ist er uns nie aufgefallen in der Richtung.“ Und Schlösser-Chef Christian Striefler ergänzt: „Uns ist der Inhalt der Strafanzeige nicht bekannt“. Was er in diesem Moment nicht sagt: Der Parkbahnleitung liegt seit Mai eine Liste mit Tatvorwürfen vor. Demnach soll Tilo H. den Jungen mit obszönen Redensarten belästigt, ihn zur eigenen sexuellen Erregung angefasst und im Intimbereich berührt haben. Unter Zwang. Henry L. habe seinen Ausbilder und Betreuer nackt betrachten und bei sexuellen Handlungen zusehen müssen. Von mindestens 100 Übergriffen ist die Rede.

Nichts davon erfahren die Eltern der anderen 230 Parkeisenbahn-Kinder. Obwohl die Familie von Henry L. bereits im September die Verantwortlichen aufgefordert haben, die anderen Eltern zu informieren, wird erst Ende November zu einem Informationsabend eingeladen. Es gehe um ein Kinderschutzkonzept, heißt es da etwas nebulös. Von sexuellem Missbrauch kein Wort. Als es so weit ist, sind nur 30 der 250 Stühle besetzt, acht Mütter und Väter nehmen die Fakten zur Kenntnis, die anderen sind Vertreter von Schlösserverwaltung und Verein. Warum wurde so lange gezögert? Hätten sonst vielleicht Eltern ihre Kinder abgemeldet und damit den Betrieb der Bahn in der Saison gefährdet? Schlösserchef Striefler verneint das auf der Pressekonferenz.

Zwar kursierten unter erwachsenen Parkbahn-Mitarbeitern seit H.s Tod Gerüchte. Was wirklich passiert sein soll, erfahren die meisten erst im Dezember aus den Medien. Einem Chatprotokoll einer internen WhatsApp-Gruppe zufolge, das der SZ vorliegt, sorgen sich die meisten nun um den Ruf der Parkbahn. Man diskutiert über Tilo H.. „Es gab aber Gerüchte, dass er … nun ja“, schreibt einer. Ein anderer: „Ich weiß glaube ich was, aber ich bin mir nicht sicher.“ Nur einer wird deutlich: „Es ist doch bekannt, und es gibt genug, die es genau wissen.“

H. war Elektriker, ein Kumpeltyp. Fast jeden Tag verbrachte er im Großen Garten und das bereits seit 1987. Weggefährten erzählen, er habe ansonsten zurückgezogen gelebt, weder Partnerin noch Partner gehabt, und er soll Schlaftabletten und Aufputschmittel genommen haben, um den Alltag zu bewältigen. Ein Nachbar von H., der im Hochhaus am Straßburger Platz lebte, erzählt: „Er war freundlich, aber wohl auch einsam.“

Drei Tage nach der Beisetzung im Juni lässt der Parkbahnverein zwei Züge zum Gedenken an Tilo H. durch den Großen Garten rollen. 250 Mitglieder, Kinder, Eltern und Mitarbeiter fahren mit und lassen Luftballons in den Himmel fliegen, mit guten Wünschen der Kinder. Für die Familie des Opfers war das grotesk. In der Traueranzeige des Vereins ist zu lesen: „Wer Bleibendes geschaffen hat und Menschen begeistern konnte, wird nicht vergessen.“ Schon seit Ende 2010 existieren Hinweise auf H.. Damals wendet sich ein Junge an die damals zuständige Geschäftsstellenleiterin des Großen Gartens. Er erzählt ihr von Berührungen und Übergriffen. Die Frau ist für eine Stellungnahme nicht erreichbar, schreibt dem Jungen aber damals eine Mail. Darin heißt es, sie habe mit H. gesprochen und keine Anzeichen für strafbare Handlungen entdeckt. H. werde „seine Bemühungen um die Parkbahner wie bisher in unserem Interesse“ fortsetzen. Allerdings: Etwa zu diesem Zeitpunkt untersagt der Vorstand Tilo H., das Logo des Vereins weiterhin für Einladungen zu seinen Privatfahrten zu nutzen. Die Notbremse zieht niemand. Der Schlösserbetrieb bestreitet bis heute, von dem Fall Kenntnis zu haben.

Auch nach 2010 bleibt Tilo H. der erste Ansprechpartner für Kinder und Eltern. Er wirbt in Schulen für das Bahn-Hobby, bildet Kinder aus, betreut Projekte. Er ist auch für „Mitmachführungen“ verantwortlich, bei der Kinder die Parkeisenbahn kennenlernen. Er ist beliebt, genießt Vertrauen. Und er organisiert Fahrten für um die 100 Kinder in die Sächsische Schweiz. Behauptet, das sei ein persönliches Dankeschön für die Hilfe bei Parkbahn-Geburtstagen oder dem Parkolino-Fest, bei denen er oft selbst in das Kostüm des Maskottchens steigt. Niemand wundert sich, dass H. private Mail-Adressen für den Kontakt zu Kindern und Eltern benutzt. H. druckt Info-Blätter, bezahlt Ersatzteile und Reparaturen für die Modellbahnanlage im Stadtzentrum. Das Gebäude gehört der Schlösserverwaltung. Nach H.s Tod wird offenbar, dass dort mit Abstand die meisten sexuellen Nötigungen gegen Henry L. stattgefunden haben sollen. Ein paar Stunden an der Anlage basteln, am Ende eine halbe Stunde „kuscheln“. Oft soll Tilo H. mit Kindern in den Räumen übernachtet haben. Schlösserverwaltung und Parkbahn-Verein wollen von all dem nichts gewusst haben. Ein heute 20 Jahre alter Ex-Parkeisenbahner behauptet zudem, H. habe für sich und mindestens drei Kinder auch schon mal ein Hotelzimmer mit nur einem Bett gebucht.

Missbrauchsfälle bei Hobby-Eisenbahnen sind kein Novum. Vor sieben Jahren erschütterte ein Missbrauchsskandal die Berliner Parkeisenbahn. Ein Beschuldigter musste wegen sexuellem Missbrauchs von Kindern für drei Jahre und neun Monate ins Gefängnis, sechs weitere Männer kamen mit Bewährung davon.

Auch in Dresden soll Tilo H. nicht der Einzige gewesen sein, der Kindern zu nahe trat. Das geht aus einer extra angefertigten Dokumentation vor, die der SZ vorliegt. 2014 erstattete gar das Jugendamt der Stadt Strafanzeige gegen Unbekannt. Die Staatsanwaltschaft bestätigt das. H.s Name fiel bei den Ermittlungen. Allerdings habe es sich um „strafrechtlich nicht relevante sexualisierte Grenzverletzungen gehandelt“. Die Dokumentation listet Tatverdächtige und Vorfälle der letzten zehn Jahre auf. Demnach seien Jungen oder Mädchen gegen ihren Willen berührt, heftig gekitzelt, umarmt oder geküsst worden. Mancher habe sich im Ton vergriffen oder Kinder angeschrien. Es werden auch Lieblingskinder aufgezählt. Manchmal ging es um üppige Geschenke, in mindestens einem Fall um Sex. Der Vereinsvorstand befasst sich immer wieder mit Mitgliedern, die Grenzen überschreiten. Seit 2010 entband das Gremium sechs männliche Mitglieder von allen Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen oder setzte sie nicht mehr als Betreuer bei Ausflügen ein. Der bislang letzte Fall datiert vom Oktober 2016: Ein 21-Jähriger verschickte explizite Fotos und anzügliche Bemerkungen an Minderjährige. Die Schlösserverwaltung bestätigt lediglich zwei Vorkommnisse. Zwei Beschäftigte hätten wegen unangemessenen Verhaltens gegenüber Kindern und Jugendlichen keinen neuen Arbeitsvertrag bekommen, sagt der Sprecher. Zu all den Vorwürfen will er nichts sagen.

Das System Parkeisenbahn stellt kaum jemand infrage. Es bestehen Abhängigkeiten, Loyalitäten, Machtverhältnisse, eine streng hierarchische Organisation. Der Verein ist seit 2009 Träger der Jugendhilfe, die Stadt Dresden fördert ihn. Zwar werden mehrere Dutzend Mitglieder zu Jugendleitern ausgebildet, Tilo H. aber lehnte das ab. Dennoch durfte er weiter Kinder betreuen. Ein pädagogisches Konzept oder umfassende Kinderschutzregeln existierten bis 2014 nicht. Erst danach unterschreiben Mitarbeiter eine Selbstverpflichtungserklärung, in der sie erklären, nichts zu vertuschen. Auch Tilo H. hat so ein Papier signiert. Für die Institution Parkeisenbahn hatte er sich unentbehrlich gemacht.

Das sei ein typisches Täterverhalten, sagt Adolf Gallwitz, ein renommierter Experte für sexuellen Missbrauch von Kindern. Der 65 Jahre alte Psychologe und Profiler an der Polizeihochschule im baden-württembergischen Villingen-Schwenningen sagt, vor allem dort, wo Jungs Sport machen oder sich mit Technik beschäftigen, kommt es zu Übergriffen. Dort gäbe es viele Möglichkeiten und vielfältige Arten der Berührung. Den potenziellen Tätern sei ihre Neigung schon früh bewusst. Deshalb suchten sie sich gezielt Berufe wie Lehrer, Kinderarzt oder Therapeut aus. „Oder Freizeitbeschäftigungen in Vereinen, als Trainer oder Ausbilder.“ Brührungen oder Übergriffe entwickelten sich dann immer systematischer und intensiver.“ Es entsteht Nähe“, sagt Gallwitz. Tilo H. passe genau in dieses Profil. Und Henry L. sei ein idealtypisches Opfer.

Der Junge begeistert sich für die Bahn und sein Idol. H. soll sich seine Lieblingskinder im Alter ab elf Jahren ausgesucht haben. Ihnen machte er Geschenke oder nahm sie auf Ausflüge mit. Über seine Privatfahrten hat der Verein bis heute keinen Überblick. Er reise nicht gern allein, schreibt H. in Mails an Kinder und ihre Eltern. Sogar seinen Urlaub verbrachte er manchmal mit jungen Parkbahnern. Es ging in den Heidepark Soltau, zu anderen Liliput-Bahnen in Wien, Stuttgart oder Leipzig. Bis Anfang 2011 waren die Aushänge zu diesen Privattouren an den Schaukästen der Parkeisenbahn-Bahnhöfe angebracht. H. entschied allein, wer mitfuhr und wer nicht.

Auch das sei eine Täterstrategie, sagt Kriminologe Gallwitz. Bei H. handle es sich wahrscheinlich um einen fixierten Tätertyp, der ein primäres sexuelles Interesse an einer bestimmten Altersgruppe habe und sich gezielt die Kinder aussuche. „Die Nähe wird dabei über Vergünstigungen, Geheimnisse, Geschenke oder finanzielle Zuwendungen hergestellt“, sagt Gallwitz. Opfer fühlen sich deshalb bevorzugt.

Der Fachbegriff dafür sei das englische Wort Grooming, das eigentlich das Heranziehen von Pflanzen und Tieren beschreibt. „Das ist ein Mechanismus, der verhindert, dass sich das Kind frühzeitig Gedanken macht, dass da etwas nicht in Ordnung ist“, sagt Gallwitz. Ansonsten wäre ja der Verlust der Besonderheit der eigenen Person zu befürchten.

Im Herbst 2013 hatte Tilo H. den Jungen Henry L. zu einem Konzert der Toten Hosen in Düsseldorf eingeladen. Arglos stimmten die Eltern zu. Zwei Jahre zuvor war die erste Anfrage zu einer Privatfahrt nach Hamburg an sie herangetragen worden. Es folgten private Badeausflüge, Radtouren und eine Reise nach England. H. verschaffte dem Jungen ein Praktikum, nahm ihn mit auf Einkaufsfahrten für die Parkbahn, ließ ihn in seine Wohnung. Henry L. fühlte sich besonders. Wie die vier Jungs davor. Zwei von H.s Ex-Lieblingskindern sind heute Vorstände im Parkbahnverein. Nun sollen sie bei der Aufklärung diverser Vorkommnisse helfen.

Dazu zählt auch der Fall eines saisonal beschäftigten Lokführers. Er steht im Verdacht, 2012 Geschlechtsverkehr mit einer gerade 15-Jährigen in den Umkleideräumen der Parkbahn gehabt zu haben. Das behaupten zumindest die Eltern. Aus einer Mail geht hervor, dass das Mädchen zunächst nicht darüber reden wollte, obwohl ein Kontaktverbot zu dem Endzwanziger ausgesprochen worden war. Die Schlösserverwaltung gab ihm danach keinen neuen Saisonvertrag. Der Verein warf den Lokführer raus. Auch weil er sich mit Minderjährigen nach Mitternacht getroffen hatte. Der Mann bestreitet alle Vorwürfe.

Die Schlösserverwaltung will die Vorgänge um Tilo H. und mutmaßliche andere Tatverdächtige jetzt ebenfalls aufarbeiten. Dazu werde intern nachgeforscht, teilt ein Sprecher mit. Seit Dezember haben sich demnach allein zu Tilo H. zwei weitere mögliche Opfer gemeldet – unter anderem wegen unangemessener Berührungen.

Bei einer Befragung von Kindern und ihren Familien sind ebenfalls zwei Fälle aufgetaucht. Dabei soll es um Grenzverletzungen und verbale Belästigungen durch andere Parkbahnmitarbeiter gegangen sein, die strafrechtlich nicht relevant seien, sagt der Sprecher des Schlösserbetriebs. Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll ein Kinderschutzkonzept entwickelt werden. Dazu wird nun eine Risikoanalyse erstellt, um zu sehen, an welchen Stellen Täter Lücken im System Parkeisenbahn ausnutzen können. Auch eine Elterninitiative hat sich gegründet, die Betroffene unterstützen will, die den Kontakt zur Schlösserverwaltung scheuen.

Henry L. hat jahrelang geschwiegen bis er sich offenbarte. Auch aus Angst, einen vermeintlichen nahen Menschen, einen guten Freund zu verlieren, der gleichzeitig sein Peiniger war. Nun hofft er, dass nie wieder Kinder bei der Parkeisenbahn erleiden müssen, was er erlebt hat.

*Name auf Wunsch geändert

Die Elterninitiative Dresdner Parkeisenbahn ist erreichbar unter 0178 1700998 oder

www.initiative-dpe.de