Sächsische Zeitung, Sachsen, 16.09.2014
Zu unbequem
In der DDR wurde Marlis Paschold von der Stasi aus ihrem Lehrerjob gedrängt. Eine neue Chance bekam sie nie.
Von Tobias Wolf
An diesen Ort wollte Marlis Paschold eigentlich nie mehr zurück. Die frühere Lehrerin steht vor ihrer Schule in Dresden-Coschütz und wird für einen Moment still. Putz bröckelt von den Mauern des leer stehenden Gebäudes, das früher 72. Polytechnische Oberschule hieß. Ein Schild mahnt: „Betreten verboten“. Es könnte für Pascholds Schicksal stehen, die zerstörte Existenz. Nach 30 Jahren will sie darüber reden – und Genugtuung.
Die 62-Jährige sieht noch die Blicke der Schüler, die an den Fenstern hingen, als sie mit zwei Stasi-Mitarbeitern ins Auto stieg. Damals, im März 1984. In die Geschichtsstunde kamen sie und sagten nur einen Satz: „Wir bitten Sie, mitzukommen.“ Nein, überrascht sei Paschold nicht gewesen. Zu lange hatte sie das Regime gereizt. Am Ende war es eine verweigerte Unterschrift, mit der ihr Leben als Lehrerin für Geschichte und Russisch enden sollte. Unter ein Jubelpapier, das die Aufstellung sowjetischer Atomraketen in der DDR begrüßen sollte. Alle unterschrieben, bis auf Paschold und drei Klassen. In der Abteilung Volksbildung muss sie sich erklären. „Ich sagte, ich unterschreibe nicht, weil ich auch meinen Schülern erzähle, dass Atomwaffen in der DDR nicht nötig sind.“
Der Druck wächst, absurde Vorwürfe kommen. Die Russisch-Noten der Schüler seien zu gut, hat sie sexuelle Kontakte zu ihnen? „Dass ich unter Verdacht stand, mich an Kindern zu vergreifen, tat weh.“ Unterstellungen gehören zum Handwerkszeug der Stasi. Längst gibt es die Akte „Parasit“ beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Darin steht: Die Lehrerin sei bereits vorher offen gegen die Raketenstationierung aufgetreten, habe eine „feindlich-negative Einstellung zur DDR“, beeinflusse Verwandte und Freunde, wende sich Kirchenkreisen zu. Paschold gilt nun als besonders gefährliche Regimegegnerin, darf nicht arbeiten und steht unter Hausarrest.
Dresden-Löbtau. Ein Baugerüst verdeckt die Fenster von Pascholds früherer Wohnung. Sie läuft durch die Straße. Das Karree, in dem sie sich damals bewegen durfte, misst in der Länge keine Hundert Meter. Da war dieser rote Wartburg, der ihr jeden Morgen folgte, wenn sie wieder zum Verhör radelte. Zwei Wochen lang. Sie sollte mundtot gemacht werden, so sieht es Paschold heute. Dabei wollte sie doch immer unbequem sein.
Als Tochter eines Bäckermeisters wächst sie im thüringischen Saalfeld auf, guckt Westfernsehen und hilft auf dem Bauernhof der Großeltern. Früh gibt es Kontakt zu Kirchenkreisen, Treffen mit kritischen Pfarrern. „Ich wusste, dass die Stasi aufpasst.“ Während des Studiums in Leipzig gibt es den ersten großen Ärger, weil sie ein Konzert der Renft Combo besucht. „Sozialistische Lehrerpersönlichkeiten gehen nicht zu Staatsfeinden“, heißt es. 1976 zieht sie nach Dresden. Die 55. Oberschule ist die einzige Schule, an der sie sich jemals wohlfühlte. Zwei Jahre später die Versetzung an die 72. Oberschule. Paschold hat geheiratet, Sohn Moritz ist unterwegs.
In Kunst verpackte Regimekritik
In der Babypause wächst die Lehrerin in die Szene von Künstlern und Intellektuellen hinein. Mail-Art, kunstvolle Kritik auf Postkarten, interessiert sie. Auch bei einer Aktion des Pfarrers Christoph Wonneberger ist sie dabei. Die Ausstellung in der Dresdner Weinbergkirche zeigt 300 Zielscheiben, umgearbeitet zu Symbolbildern für Frieden und Abrüstung. Die Stasi guckt zu. In den Westen fliehen wollte Paschold nie. Sohn Moritz besucht eine kirchliche Kita. Paschold soll ihn in eine staatliche Einrichtung geben. Sie weigert sich. Immer öfter eckt sie an, weil sie den Lehrplan nur als Empfehlung versteht. „Ich wollte nicht nur über Parteitage reden, sondern über Literatur und Geschichte.“ Kindern selbstständiges Denken beibringen. Edgar Ellen Poe und Franz Kafka statt Lenin und Stalin.
All diese kleinen Widerstände werden ihr im März 1984 zum Verhängnis. Sie knickt nicht ein. Nach zwei Wochen täglicher Verhöre ist der Spuk vermeintlich vorbei. Paschold darf nach Hause und wieder in die Schule. Es ist nur der Beginn für die nächste Phase der Zerstörung ihrer Existenz. Die Vorbereitungsunterlagen sind weg. Dafür sitzt nun jedes Mal ein MfS-Mitarbeiter im Unterricht. Ihre Klasse muss sie vor den Abschlussprüfungen abgeben. Die Stasi droht mit Haft, um ihr Kind werde sich der Staat kümmern. Jetzt spürt Paschold Angst, versteckt sich zwei Tage in einem Wald und geht schließlich zur Abteilung Volksbildung. Das System hat gewonnen. Sie unterschreibt einen Aufhebungsvertrag, verliert ihren Job endgültig. Als Schneiderin darf sie nur noch 1 000 Mark im Jahr verdienen. Die Ehe scheitert 1986 auch daran, dass Romeos Annäherungsversuche machen, Agenten, die Liebe vortäuschen, um an ihre Opfer heranzukommen. Mit einigen sei etwas gelaufen, sagt Paschold. Erst aus ihrer Stasi-Akte sollte sie später erfahren, wer die Männer schickte. Schließlich geht sie zurück nach Thüringen, zieht in ein kleines Bauernhaus. Die Schikanen gehen weiter. Viele meiden die Neuankömmlinge, der Sohn wird verprügelt. In der Stasi-Akte steht, dass in der Dorfkneipe gegen sie gehetzt wurde.
Sozialhilfe statt Schuldienst
Nach der Wende bewirbt sie sich um freie Lehrerstellen. Erfolglos. Sie soll nachweisen, wieso sie seit 1984 nicht mehr unterrichten durfte. Das klappt nicht, weil die Stasi-Unterlagenbehörde eine Welle von Anträgen zu bearbeiten hat. 1992 erhält sie eine ABM-Stelle als Straßenkehrerin. Die politische Rehabilitation kommt erst 1995. Wieder bewirbt sich Paschold bei den Thüringer Schulbehörden. Nun seien alle Stellen besetzt, heißt es. Auf dem Bauernhof will sie eine Kita einrichten. Aber es gibt keine Fördermittel. Zwischendurch ist sie ehrenamtlich in einer Jugendkneipe tätig, um endlich wieder mit jungen Leuten zu arbeiten. Der Bewerbungsmarathon geht weiter. Vielleicht klappt es ja mit politischer Bildungsarbeit. Sie hätte einiges zu erzählen. Keine Chance. Wie kann ein Mensch so viele Jahre der Ablehnung überstehen? Mini-Jobs und Kurzzeit-Engagements als Erziehungshilfe können kaum motivieren. „Ich kann nur mit Leidenschaft etwas machen oder gar nicht.“ Künftig will sie in der Dresdner Stasi-Gedenkstätte mitarbeiten, Führungen machen, vor allem für Schüler. Ein erstes Gespräch sei positiv verlaufen. Vielleicht zieht sie sogar wieder in die Stadt. Wenn sie es sich leisten kann.
Marlis Paschold lebt seit der Wende von Sozialhilfe. 359 Euro pro Monat, dazu eine SED-Opferrente von 184 Euro. Beim Thüringer Landesverwaltungsamt hat sie einen Antrag auf Entschädigung gestellt – für alle entgangenen Arbeitsjahre seit 1984. „Ich gebe mich nicht eher zufrieden“, sagt sie. Unbequem ist Paschold immer noch.