Sächsische Zeitung, Seite 3, 27.07.2017
Dschihad und Pfefferkuchen
Mit der Verhaftung von Linda W. im Irak rückte Pulsnitz über Nacht weltweit in den Fokus. Was macht das mit der Kleinstadt?
Von Jana Ulbrich, Tobias Wolf (Text) und Ronald Bonss (Foto)
So einen Rummel haben sie noch nicht erlebt. Klar, die Kleinstadt ist bekannt. Die Pulsnitzer Pfefferkuchen sind das Aushängeschild, ein geschützter Markenname, dazu das passende Museum für die Fans. Damit wären sie gern berühmt geblieben in der Oberlausitzer Kleinstadt. Pulsnitz, gut 7 500 Einwohner, eingebettet in eine malerische Hügellandschaft aus Feldern und Wäldern, ein Barockschloss um die Ecke, ist nun für etwas anderes bekannt. Schlagartig rückte der Ort in den letzten Wochen in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Terrorismusexperten kennen ihn. Die derzeit berühmteste Tochter der Stadt ist Linda W., vor zwei Wochen in Mossul im Irak als mutmaßliche IS-Unterstützerin festgenommen. Die Bundesanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen die 16-jährige Schülerin übernommen, Diplomaten verhandeln über ihre Rückkehr nach Deutschland, und Journalisten belagern Lindas Heimatstadt. Fragen, fotografieren, filmen. Fast jeden Tag.
Nur eine Handvoll Reisende hat nichts davon mitbekommen. Die drei Rentner aus Hannover stehen am Tresen der Touristinformation und fragen nicht nach Linda. Sie wollen den Weg zum Geburtshaus von Bartholomäus Ziegenbalg wissen, eines christlichen Missionars, der Anfang des 18. Jahrhunderts nach Indien ging. Der Ziegenbalg sei mancherorts auf der Welt berühmter als Martin Luther, sagen die Rentner mit Kennermiene. Nur seinetwegen sind sie nach Pulsnitz gekommen.
In der kleinen Pfefferküchlerei im Zentrum riecht es nach Zimt und Kardamom, nach Fenchel, Muskatnuss und Macisblüte. „Wir backen gerade“, sagt die Chefin und lächelt tapfer. Auf großen Blechen liegen frische Pulsnitzer Spitzen, zwei Lagen Teig, dazwischen Himbeer- und Johannisbeergelee, zusammengehalten von dunkler Schokolade. Von den Reportern vor der Ladentür interessiert sich niemand dafür. Sie fragen jeden, der vorbeigeht, nach Linda, dem Mädchen, das in den Heiligen Krieg gezogen sein soll. Seit über einer Woche geht das schon so, sagt die Pfefferkuchenverkäuferin. Auch bei ihr im Laden, obwohl sie zu all dem eigentlich gar nichts sagen will.
Vor der Pfefferküchlerei diskutieren die Leute auf der Straße. Sie alle kennen die Bilder. Fotos, auf denen ein schmales blasses Mädchen vor zerschossenen Ruinen zu sehen ist, staubbedeckt, erschöpft, gestützt von Männern in Uniform. Es sind die Bilder, die irakische Soldaten nach der Befreiung Mossuls vom Islamischen Staat wie Trophäen bei Facebook veröffentlichten. Die von dort ihren Weg bis ins Fernsehen und die Zeitungen nahmen. Die eine Art mediale Naturkatastrophe über Pulsnitz hereinbrechen ließen.
Eine Frau läuft vom Einkaufen nach Hause. Sie kennt Lindas Familie und findet schrecklich, was in der Stadt gerade los ist. „Wir haben sogar im Urlaub in Island über einen norddeutschen Internetsender von der Islamistin aus Pulsnitz gehört.“ Stundenlang würden Fotografen und Kamerateams nun das Haus der Familie belagern, ungeniert alles filmen und fotografieren. Seit voriger Woche jeden Tag. Die Leute seien genervt. Manchen macht die Dauerbelagerung auch Angst. „Ich gehe nicht mehr über den Marktplatz, wenn ich jemanden mit einer Kamera oder einem Mikrofon in der Hand sehe“, sagt eine Rentnerin.
Der Ärger über den Medienrummel ist das eine. Dass sich ausgerechnet eine Oberschülerin aus Pulsnitz in den letzten Sommerferien heimlich auf den Weg zum IS gemacht hatte, versteht hier keiner. Unbemerkt von Familie und Freunden, mit einer gefälschten Erlaubnis der Mutter, war Linda in ein Flugzeug nach Istanbul gestiegen. Danach soll das Mädchen über den türkischen Grenzübergang Bab al-Hawa in die syrische Provinz Idlib gereist sein, später in die „IS-Hauptstadt“ Al-Rakka. Wie sie in das Tunnelsystem unter der Altstadt der irakischen Metropole Mossul gekommen ist, in dem die irakischen Spezialeinheiten sie festnahmen, ist immer noch unklar.
Sicher ist: Linda spaltet Pulsnitz und, wenn man so will, die deutsche Öffentlichkeit – sichtbar im Internet. In Facebook-Kommentaren heißt es etwa: „Das Mädel ist eine Gefahr für die Gesellschaft! Sie braucht keine Hilfe, sondern knallharte Bestrafung.“ Mancher Sachse glaubt gar, Linda würde demnächst einen Bombengürtel in der Dresdner Frauenkirche zünden. Anhänger von Pegida, NPD und Co., die sonst gern kriminelle Ausländer abschieben wollen, fordern, dass Linda nicht nach Hause zurückkommen solle, sondern im Irak verurteilt werden müsse. Nur eine Minderheit erinnert daran, dass es um ein Kind geht. „Mein Gott, sie ist erst 16. Man sollte mal überlegen, was in der Familie schiefgelaufen ist, um so einen Entschluss zu fassen“, schreibt einer. Die Diskussion im Internet, das hässlich-übertriebene Abbild einer Debatte, die Pulsnitz in diesen Tagen bestimmt und Ablehnung, Angst, aber auch Verständnis hervorruft.
Vor der Pfefferküchlerei redet sich so mancher in Rage. Manche glauben, das Mädchen würde die Islamisten mitbringen, wenn sie wiederkäme. „Sie soll doch bleiben, wo sie ist, und sich bloß nicht mehr hier blicken lassen“, schimpft ein Rentner über Linda. Ein anderer pflichtet ihm bei: „Die werden sie auch gar nicht rauslassen aus dem Irak, da kannst du dir sicher sein“. Der nächste mahnt. „Aber sie ist doch noch ein Kind, eine Jugendliche in der Pubertät“, sagt ein Mann Anfang 50, der auch Kinder in diesem Alter hat. „Jugendliche machen auch mal Fehler, da muss man ihnen doch eine Chance geben.“
Die Frau, die in Island war, als Linda in Mossul verhaftet wurde, wünscht sich, dass das Mädchen wieder heil zurückkommt. „Das hier ist doch ihre Heimat“, sagt sie. Sie hoffe darauf, dass es in Deutschland Institutionen gibt, die Linda helfen, wieder in die Gesellschaft zurückzufinden. Aber ob sie das überhaupt jemals schaffen wird? Ob sie sich überhaupt jemals wieder in Pulsnitz einfinden kann? Glaubt man ausländischen Zeitungen, vielleicht sogar mit einem Kind, dessen Vater IS-Kämpfer war und längst tot ist. Das alles sind Fragen, die derzeit niemand beantworten kann. „Die hat doch hier überhaupt nichts mehr zu lachen“, sagt ein 29-Jähriger ernst.
Lindas Familie wird seit der Verhaftung im Irak abgeschirmt. Die Hayat-Initiative betreut sie. Die Extremismus-Experten helfen Familien, deren Kinder durch Salafisten oder den IS radikalisiert werden. 180 Fälle gibt es derzeit bundesweit. Hayat heißt Leben. Linda und ihre Familie sollen ein neues Leben führen können. Wer sich schuldig gemacht habe, müsse sich verantworten, sagt Hayat-Betreuerin Claudia Dantschke. Danach müsse die Gesellschaft aber verzeihen und hoffen, dass sich die Frauen wieder eingliedern. Linda ist nicht die Einzige. Nach einem Bericht der Welt seien drei weitere deutsche Frauen in Mossul festgenommen worden, die aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen stammen. Lindas Eltern und die Schwester wollen sich nicht mehr äußern. Der Druck sei einfach zu groß geworden, sagt ihr Stiefvater. Er lebe inzwischen von seiner Frau getrennt. Und dann ist da noch das offizielle Pulsnitz. Bürgermeisterin Barbara Lüke sieht schon jetzt das öffentliche Bild ihrer Stadt beschädigt. „IS und Dschihad“, so und ähnlich lauten die ersten Suchergebnisse im Internet, wenn man Pulsnitz etwa bei Google eingibt. Lüke beklagt, dass es keine Strukturen gebe, die Menschen wie Linda auffangen, die die Radikalisierung von Teenagern verhindern.
Wie war es nur möglich, dass eine gute Schülerin sich innerhalb kurzer Zeit radikalisierte und niemand etwas merkte? Dass sie Kopftuch und trotz Hitze lange Kleider trug. Dass mehr dahinter stecken könnte, als eine eigensinnige, aber vorübergehende Episode einer Teenagerin? In Pulsnitz finden sie keine Antwort. Auch Christoph Semper nicht. Der 30-Jährige ist Sozialpädagoge beim Netzwerk für Kinder- und Jugendarbeit in der Westlausitz. Schwierige Fälle erkennen, sich mit viel Zeit um orientierungslose Jugendliche zu kümmern, ist kaum möglich. Semper ist allein für Pulsnitz und sieben andere Orte zuständig. „So schlimm der Fall ist, aber er könnte in Zukunft vielleicht auch eine Chance sein.“
Die Pulsnitzer Oberschule hatte seit 2011 keinen Sozialarbeiter mehr. Nun soll sie wieder einen bekommen. So jemand könnte mit den Jugendlichen auch über Gefahren des Internets reden. Wie schnell man an radikale Fanatiker geraten kann. „Pulsnitz und der Dschihad – wir hatten so ein Thema doch bisher gar nicht auf dem Schirm“, sagt Christoph Semper.
Irgendwann wird Pulsnitz in den Kleinstadtmodus zurückfinden müssen. Im Pfefferkuchenmuseum am Marktplatz rührt Karin Haupt Zuckerguss an. Puderzucker, Eiweißpulver, Lebensmittelfarbe und Wasser. Sie braucht eine ganze Menge davon. Am Nachmittag kommt eine Kindergruppe vorbei, will Pfefferkuchenherzen backen. Gerade jetzt in den Ferien würden viele Kinder kommen, sagt Haupt. Die Kleinen interessieren sich eher für die Süßigkeiten in Pulsnitz. Ein Stück Normalität.