Sächsische Zeitung, Seite 3, 20.07.2020
Tatort Kühllaster
Auf Melonenkisten lagen in dem Lkw 31 Menschen. Die Bundespolizei ermittelt. Fälle wie dieser sind wieder öfter ein Thema. Das hat auch mit Corona zu tun.
Von Tobias Wolf
Behutsam zieht der Gabelstapler die Palette mit den Melonenkisten aus dem Laderaum des Kühl-Lkws und setzt sie vor der Werkstatt-Halle auf dem Polizeigelände im Dresdner Norden ab. Roland Schmidt* und Sascha Wiemer* haben weiße Anzüge und blaue Handschuhe angezogen. Sie rücken den Mundschutz zurecht. Im strömenden Regen gucken sie zu, wie der Staplerfahrer Palette Nummer zwei abstellt.
Schmidt und Wiemer sind Kriminaltechniker der Bundespolizei, spezialisiert auf die Spurensuche, auch das, was man nicht mit bloßem Auge sieht. Über Stunden werden sie bis zum Abend Innenraum und Ladung des türkischen Lkws absuchen, der der Polizei am vergangenen Dienstag ins Netz ging. 29 Paletten mit über 12.000 kernarmen Mini-Wassermelonen, 23 Tonnen schwer. Vergangene Woche waren solche Melonen bei Kaufland in Dresden für 1,95 Euro das Stück im Angebot.
Die Melonen interessieren die Kriminalisten, weil auf ihnen Menschen lagen. 31 Männer im Alter von 18 bis 47 Jahren, die meisten türkische Kurden, drei Syrer, drei Iraner und ein Iraker. Auf den Obstkisten liegen noch Gepäckstücke der Flüchtlinge, ein paar Decken und Handtücher, mit denen sie sich vor der Kälte schützten. Eine genaue Untersuchung findet in der Bundespolizei-Inspektion in Berggießhübel in der Sächsischen Schweiz statt.
„Die Spurensuche und Auswertung ist langwierig“, sagt Sascha Wiemer. „Im Fernsehen sieht das immer aus, als könnte man in kurzer Zeit noch am Tatort Fingerabdrücke und DNA-Spuren auswerten.“ Allein die Vervielfältigung und Verstärkung der Proben im Labor dauere eine gewisse Zeit.
Fälle wie den des Melonenlasters gibt es im Ermittlerleben nicht allzu viele. Wiemers letzte Spurensuche dieser Art war ein griechischer Schleuserbus, den Bundespolizisten Weihnachten 2011 hollywoodmäßig vor dem Dresdner Hauptbahnhof stoppten.
Die meisten Polizisten an der Grenze haben alle noch die Bilder von August 2015 im Kopf, als ein ungarischer Kühltransporter mit 71 toten Flüchtlingen im Laderaum auf dem Seitenstreifen einer österreichischen Autobahn entdeckt wurde. Hauptkommissar Sven Löschner aus Breitenau leitet die aktuellen Ermittlungen gegen den türkischen Lkw-Fahrer. „Seit August 2015 kann keiner mehr sagen, er weiß nicht, was es heißt, Menschen in einem Kühllaster zu transportieren.“
In Sachsen hatte es kurz vor dem Fall in Österreich etwas Ähnliches gegeben. Nach Anwohnerhinweisen waren in der Nähe von Lauenstein 81 Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge entdeckt worden, die mehr als einen Tag auf der schlecht belüfteten Ladefläche eines Lastwagens unter menschenunwürdigen Zuständen zusammengepfercht waren. Den Fahrer stellten Beamte damals noch in der Umgebung. Kriminaltechniker Schmidt hat den Lauensteiner Laster damals untersucht. Nun also wieder solch ein Transporter. Der 50-Jährige beginnt mit einer hellen LED-Lampe die Obstkisten auszuleuchten, Stück für Stück. Wiemer fotografiert.
18 Stunden zuvor, Dienstagabend, kurz vor halb neun. Eine Zoll-Streife bemerkt den Lkw nach der tschechisch-deutschen Grenze auf der Autobahn 17. Die Beamten sind im Einsatz für eine Großkontrolle mit Fokus Lastverkehr. Rund 14.000 Fahrzeuge passieren die Grenze jeden Tag, 80 Prozent Lkws. Würde man die Autobahn sperren, und jeden kontrollieren, gäbe das Stau bis Prag. Der etwa vier Jahre alte türkische Laster ist einer von 166, der innerhalb von drei Tagen auf einen nahen Parkplatz gelotst wird. Der Wagen ist gepflegt, technisch unauffällig, die Reifen top. Weil er aus einem Nicht-EU-Land kommt, soll überprüft werden, ob alles verzollt ist. Ein Routineeinsatz. Frachtpapiere prüfen, die Ladung checken, eine Standardprozedur, sagt ein Zollsprecher.
Als die Zöllner den Laderaum öffnen, fallen ihnen angebissene Melonenschalen auf. Die Essensreste liegen auf der einzigen freien Fläche, zweieinhalb Meter breit, keinen Meter tief. Dass im nur 65 Zentimeter hohen Raum zwischen Obstkisten und Dach Menschen liegen, wird erst klar, als ein Zöllner mit der Leiter die Kisten prüfen will. Im Schein der Taschenlampe erkennt er in drei Metern Entfernung Personen.
Herbeigerufene Bundespolizisten nehmen die Migranten in Empfang. Nach einer Anzeige wegen unerlaubter Einreise werden sie an die Ausländerbehörde Chemnitz weitergeleitet. Der 57-jährige Lkw-Fahrer, ein hagerer Türke mit Stirnglatze und grauem Schnauzer, wird nach ersten Vernehmungen in die Justizvollzugsanstalt Dresden gebracht. Ein Gericht ordnet Untersuchungshaft an. Für das Einschleusen unter lebens- oder gesundheitsgefährdenden, unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen drohen zehn Jahre Gefängnis.
Wie gefährlich es im Kühlraum wirklich war, diesen Nachweis können Spuren liefern. In der ersten Palette stoßen die Kriminalisten auf Verpackungen von Schokoriegeln, Waffeln und Keksen, Zigarettenschachteln, bedruckt in einer südosteuropäischen Sprache. Schmidt sammelt und legt ab, Wiemer fotografiert für die Akte.
Die Details müssen geheim bleiben, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Schmidt und Wiemer nummerieren Paletten und Funde, verpacken alles in Cliptüten. „Die Menge der Lebensmittel und Wasserflaschen kann helfen, einzuschätzen, wie gefährlich der Transport im Laderaum war“, sagt Roland Schmidt.
Inzwischen stehen sieben Melonen-Paletten neben dem Lkw. Schmidt klettert immer wieder auf die Leiter, durchsucht jede Kiste. „Hier ist was“ ruft er und reicht einen Plastikschnipsel herunter. Wiemer dreht ihn in der Hand. „Ein Stück Ausweis.“. Schmidt findet mehr. Wiemer hält die Stücke aneinander: eine Aufenthaltskarte aus einem mitteleuropäischen Land für Nicht-EU-Bürger. „Ob der falsch oder echt ist, sehen unsere Urkundenexperten.“
Ausweise, aber auch Dokumente des Fahrers und die Frachtpapiere können helfen, die Schleuser-Route nachzuvollziehen. Hat der Mann Pausen gemacht, passen seine Angaben zu jenen der Migranten? Hat er irgendwo getankt, Maut bezahlt? Klar scheint nur, dass der Lastwagen die Melonen in der Stadt Mersin in der Südtürkei an Bord nahm und dass er wohl entlang der klassischen Balkanroute über Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Tschechien nach Deutschland fuhr.
Ob die Spedition von der Schleusung wusste, ist unklar. Die 1995 gegründete Firma transportiert Gemüse, Obst, Eis, Tiefkühlkost und Elektronik im Nahen Osten und nach Europa und betreibt eine Flotte von 70 Kühllastern. Eine Anfrage bei der Geschäftsführung blieb unbeantwortet.
Die Flüchtlinge sollen in Ungarn zugestiegen und über zwölf Stunden im Kühlraum eingesperrt gewesen sein. In Wäldern entlang der Autobahn M5 zwischen Szeged im Südosten und Budapest gibt es viele Möglichkeiten, im Schutz der Dunkelheit Schleuserfahrzeuge zu besteigen.
Gleich zu Anfang haben Schmidt und Wiemer drei Fünf-Liter-Plastikflaschen und einige kleinere voll mit Urin herausgeholt. Offenbar durften die Flüchtlinge den Laderaum nicht verlassen. Stattdessen mussten sie ihre Notdurft wohl im Zwischenraum zwischen Tür und Melonen verrichten.
Schmidt hat die nächste Palette vor sich. Oben liegen ein Handtuch mit dunkelroten Flecken und eine durchtränkte Gesichtsmaske. Blut? „Wir sprechen immer von bluttypischen Anhaftungen, bis wir es genau wissen“, sagt Sascha Wiemer. Mindestens einer der Passagiere soll wegen einer gebrochenen Nase behandelt worden sein. Vielleicht war er beim Versuch, von den Kisten herabzuklettern, gestürzt.
Nach Jahren der Stagnation steigt die Zahl von „Behältnisschleusungen“ wieder, wie die Polizei den Transport in Lkws und Transportern nennt. Maik Fischer ist Hauptkommissar der Kriminalabteilung der Bundespolizei in Halle, die für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zuständig ist. „Durch die vorübergehenden Grenzschließungen hat es eine Art Corona-Stau gegeben, weshalb nun mehr Schleuser unterwegs zu sein scheinen“, sagt der 39-Jährige. Vor allem Routen von der Türkei über Rumänien und von Griechenland über Serbien seien auffällig.
Sachsen ist wegen der Nähe zu Tschechien und Polen ein Hotspot. Auch am vergangenen Dienstag griffen Polizisten an der A 14 bei Leipzig acht Frauen und Männer aus Syrien auf. Auch sie kamen wohl per Lkw über die A 17. Am Mittwoch wurden acht Migranten bei Breitenau entdeckt. Der Schleuser entkam. Allein die Inspektion Berggießhübel verzeichnet trotz der fast drei Monate dauernden Corona-Pause von Januar bis Juni 300 illegale Migranten, 42 Schleuser und 11 Mittäter. Die meisten stammten aus Serbien, der Ukraine und Moldawien, gefolgt von Syrern und Albanern. Die Schleuser sind zumeist Syrer, Rumänen, Moldawier und Ukrainer.
Auch Dienststellen weiter östlich in Ludwigsdorf an der A4 und in Ebersbach-Neugersdorf verzeichnen immer mehr Fälle. Dort kommen vor allem Osteuropäer mit Schleusern. Mitte Juni setzte ein Kühllaster 26 Menschen aus dem Nahen Osten im Zittauer Gebirge ab und entkam. Auch abgelegene Grenzübergänge im Erzgebirge werden genutzt.
Für Schleuser und ihre Hintermänner ist die lebensgefährliche Schleusung in geschlossenen Laderäumen oder Kühllastern ein dickes Geschäft. Migranten zahlen zwischen 6.000 und 10.000 Euro für die Strecke aus dem Nahen Osten bis Deutschland.
Manche Täter sind mit Schein-Ladungen unterwegs, sagt Chef-Ermittler Sven Löschner. Möbel oder ähnlich unverderbliche Güter werden für eine glaubwürdige Legende mit falschen Frachtpapieren hin und her gefahren. Im Fall des türkischen Lkw-Fahrers war die Melonen-Ladung wohl echt. Den Etiketten zufolge sollte sie nach München gehen. Vielleicht hat auch der Umweg über Sachsen das Misstrauen der Beamten geweckt.
Roland Schmidt und Sascha Wiemer haben inzwischen den Laderaum vermessen. Bei zwölf Metern Länge und 2,50 Metern Breite blieben jedem Migranten rechnerisch gerade einmal 0,9 Quadratmeter Liegefläche auf den Melonen, nur wenig mehr als ein Schwein in Massentierhaltung. Wie war der Lkw-Fahrer in die Schleusung eingebunden? Oder hat er nur irgendwo gehalten und jemand anderes brachte die Menschen in den Kühlraum? Mit einem Wattetupfer streicht Roland Schmidt den Riegel der Heckklappe ab. Ist die DNA identisch mit der am Lenkrad oder dem Griff der Fahrertür, könnte das darauf hindeuten, dass der Fahrer den Laderaum für den Zustieg öffnete. Auch die sichergestellten Trinkwasser-Flaschen werden im Labor auf DNA untersucht. Das kann Hinweise liefern, wer noch an der Schleusung beteiligt war.
Die Melonen dürfen nach der Schleusung nicht mehr in den Handel. Das hat das Gesundheitsamt verfügt. Sie werden entsorgt. Wann der Lkw an die Spedition zurückgegeben wird, ist unklar. Die Spurensuche ist noch lange nicht abgeschlossen.
* Namen geändert