Sächsische Zeitung, Seite 3, 30.08.2018

Das Leben des Daniel H.

Wer war der junge Mann, dessen Tod in Chemnitz von so vielen betrauert wird – und von Rechtsextremen so brutal instrumentalisiert? Gespräche, Beobachtungen bei Familie, Freunden und Bekannten.

Von Tobias Wolf

Sonntagmorgen, ein Krankenhaus in Chemnitz. Die Ärzte haben den Kampf um das Leben von Daniel H. verloren. Wenige Stunden zuvor war er Opfer eines Verbrechens geworden, das sei Tagen Chemnitz, Sachsen und Deutschland beschäftigt. Aber wer war der junge Mann? Eine Recherche in Chemnitz.

Die Familie.

Die Hunde hinter dem Gartentor hören nicht mehr auf zu bellen. Das Gartentor gehört zu einem schlichten Haus in Chemnitz-Ebersdorf, dessen Klinkerwand verblichen ist. Mit seiner Freundin Bianca F. und ihrem Sohn Jordan hat Daniel H. bei den Schwiegereltern gewohnt. Bianca F. ist wegen seiner Beisetzung unterwegs. Fotos im Internet zeigen ihn als muskulösen jungen Mann, der seine Freundin gern auf Händen trug. Auf Facebook schrieb er: „Du bist und bleibst die Liebe meines Lebens.“

Winfried F. beruhigt die Hunde, tritt dann mit seiner Frau Leona vor das Tor. Der 74-Jährige mit sportlichem Körper und Silberkette will eigentlich mit niemandem mehr sprechen. Dann redet der Schwiegervater doch. Die Familie ist fassungslos über den Tod des Mannes, der bei ihnen seit Jahren ein- und ausging. „Der Daniel war ein guter Mensch“, sagt Leona F . Ihr Mann nickt. „Wenn es irgendwo mal Streit gab, war Daniel der, der geschlichtet hat.“ In der Nacht zu Sonntag konnte er das nicht . Nach allem, was bekannt ist, begann die Auseinandersetzung mit den Tatverdächtigen wegen einer Zigarette, die sie von ihm und seinen Begleitern forderten.

Trauer und Wut, Winfried F. trägt beides in sich. Trauer über den Verlust, Wut auf all jene, die in seinen Augen Falschinformationen über Daniel H. verbreiten. „Ein Rechter soll er gewesen sein, ein Hooligan, ein Schläger, alles gelogen.“ Daniel sei immer anständig und hilfsbereit gewesen . Bianca, die Tochter, hatte den früheren Tischlerlehrling vor acht Jahren kennengelernt. Da war sie von einem anderen schwanger. Im Kreißsaal war Daniel H. bei ihr, nahm das Kind an wie sein eigenes.

Der Schwiegervater sagt, er sei anfangs skeptisch gewesen wegen Daniels kubanischer Wurzeln. „Aber das war so ein Blödsinn. Er war so ein lieber Kerl.“ Seine Augen glänzen feucht, als er darüber spricht. Auch die Söhne der Familie hätten an Daniel gehangen .

Ein Auto kommt langsam herangefahren. Es ist der Nachbar Erwin Feige. Er stoppt und öffnet das Fenster. „Ich tue alles, um Daniel gerecht zu werden.“ Die Stimme erstickt kurz, Feige unterdrückt eine Träne. „Ich habe die Rolle als väterlicher Freund für Daniel nicht übernommen, sie ist mir einfach so zugewachsen.“ Feige erzählt von den Begegnungen, den vielen Gesprächen über den Gartenzaun hinweg. Und von Samstagabend , als Daniel zum Skatabend mit Freunden ging, von dem er nicht mehr nach Hause kommen sollte, Dann drückt er lange die Hand des Schwiegervaters. Es ist ihr gemeinsamer Verlust.

Die Trauernden.

An der Brückenstraße im Zentrum wächst derweil ein Gedenkplatz für Daniel H. Ein gutes Dutzend Menschen steht davor: Senioren, Fußballfans von Dynamo Dresden . Die meisten schweigen, manche tuscheln. Hunderte Kerzen und Grablichter stehen an dem Ort, wo der 35-Jährige starb. In der Mitte ein Porträtfoto von ihm, daneben Trauerkarten mit Kondolenzbekundungen und ein Strauß mit einer schwarz-rot-goldenen Schärpe , den rechte Demonstranten am Montag niederlegten . Neben den Kerzen erbost sich eine Frau über den Fall. Die 71-Jährige schimpft auf die Medien. Sie habe am Montag mit ihrem Mann die Demonstration besucht . Die Ausschreitungen bei der Kundgebung, angemeldet vom rechten Bündnis „Pro Chemnitz“, will sie nicht bemerkt haben, Flüchtlinge nennt sie „Assivolk“. Ein junger Mann versucht, mit ihr zu diskutieren: „Die benutzen den Deutsch-Kubaner doch nur für ihre rechten Parolen.“ Erfolglos. Wer Daniel H. war, ist der Frau egal.

Ein Verkäufer in einem Laden an der Brückenstraße nennt es eine Schweinerei, dass Rechte die Situation so brutal ausnutzen. „Mein Gefühl ist, dass seit Sonntag weniger Menschen mit einer anderen Hautfarbe in der Innenstadt unterwegs sind. Die haben Schiss, dass es wieder zu Menschenjagden kommt.“

Die Freunde.

Martin Schmidt* fühlt sich immer noch überfordert von der Nachricht, dass sein Freund Daniel H. nicht mehr lebt. Sie kannten sich seit fast zwei Jahrzehnten. Schmidt hat wie Daniel H. einen kubanischen Vater, der in die DDR zum Studieren kam . Daniel H.s Spitzname sei „Neggi“ gewesen. „Neggi wie Neger, aber freundlich gemeint“, sagt Schmidt.

„Dass die Rechten ihn jetzt benutzen, ist das allerletzte, was sich Daniel gewünscht hätte, was er als sein Vermächtnis mitgegeben hätte“, sagt Schmidt. Er lebt inzwischen woanders, hat den Freund am Vorabend seines Todes angerufen. Er erreicht ihn auf dem Stadtfest, wo er kurz vor dem Skatabend vorbeischaut. Vor seinem Wegzug war Schmidt auch Teil der Skat-Truppe. „Ich hab ihn anfeuern wollen. Es war ein Zufall, dass ich ihn angerufen habe. Wenn ich gewusst hätte, dass das das letzte Gespräch ist. Unvorstellbar.“ Am Sonntag wollten sie wieder telefonieren.

Dem Freund ist es nicht egal, dass Daniel H.s Tod nun von Rechten instrumentalisiert wird. Das seien dieselben Leute, die seinen Freund und ihn früher für nicht deutsch genug angesehen hätten. Man habe sich mit denen prügeln müssen. In Daniel H.s Freundeskreis ging es eher unpolitisch zu. „Da sind alle sehr offen und die politischen Haltungen komplett unterschiedlich“, sagt Schmidt. Punker, Technoleute, Skins. „Das was in Chemnitz passiert, missbraucht sein Andenken.“ Hätte er eine Chance gehabt, sich dazu zu äußern, hätte er nicht gewollt, dass so etwas passiert. „Daniel war sehr beliebt überall, jeder hat ihn gemocht.“

Auch bei den Sozialarbeitern eines Chemnitzer Jugendhauses, in das Daniel H. bis vor ein paar Jahren regelmäßig kam. Um Sport zu treiben oder mit einer seiner Lieblings-Rap-Bands zu feiern. „Daniel war ein angenehmer Zeitgenosse .“ Er habe nie Probleme gemacht , einfach nur sein Bier getrunken und Partys gefeiert. Offiziell will der Mitarbeiter des Jugendhauses nichts sagen. Es ist gerade ein zu heißes Thema für viele in Chemnitz.

Thomas Bretschneider hat mit Daniel H. als kleiner Junge im Garten gespielt und gezeltet – bevor der Kumpel mit seiner Mutter in einen anderen Stadtteil zog. „Wir haben einen Teil unserer Kindheit zusammen verbracht.“ Der 39-Jährige betreibt eine Fahrschule in Chemnitz-Glösa. Zur Tat will er sich nicht äußern, sagt aber: „Daniel war nicht rechts, und was die Demos angeht: Es gibt Menschen, die lauern auf etwas, auf genau so eine Situation haben die gewartet. Dazu kommt: am Sonntag war Fußball.“ Bretschneider will etwas für Daniel H.s kleine Familie tun, hat einen Spendenaufruf beim Bezahldienstleister Paypal im Internet gestartet.

Die Kollegen.

Ein paar Straßen vom Haus der Schwiegereltern entfernt hat Daniel H. gearbeitet, bei den Hausgeistern Chemnitz, einem Hausmeisterdienst. Die Nachricht von Daniels Tod löste hier Entsetzen aus. Darüber sprechen möchte niemand. Auch nicht der Chef, richtet die Sekretärin aus. Daniel H. hat dort Holzarbeiten gemacht, Fenster und Türen repariert, sagt Schwiegervater Winfried F. Manche sagen, er sei Fan des Chemnitzer FC gewesen. Aber kein Hooligan.

Der Verein zur Beruflichen Förderung und Ausbildung Chemnitz, bei dem Daniel H. einst den Tischlerberuf lernte, schrieb einen Kondolenzeintrag auf Facebook. Mehr als 4 000-mal wurde der Beitrag geteilt, 1 600-mal kommentiert.

Montagnachmittag sah sich der Verein genötigt, einen Nachtrag zu veröffentlichen, in dem er sich von den unzähligen Hasskommentaren unter dem Beitrag distanzierte. Denn die Botschaft des Vereins lautet: „Mit Bestürzung und Fassungslosigkeit haben wir vom gewaltsamen Tod unseres ehemaligen Tischlerlehrlings erfahren. Daniel war ein sehr hilfsbereiter, fleißiger und lebenslustiger Mensch – Ruhe in Frieden Daniel!“

*Name von der Redaktion geändert

Mitarbeit: Ulrich Wolf