Sächsische Zeitung, Seite 3, 29.10.2019

Unruhe im Gotteshaus

Evangelische Gemeinden sind nach dem Rücktritt von Landesbischof Carsten Rentzing in Aufruhr. Es geht um mehr als ein paar alte rechtslastige Texte.

Von Tobias Wolf (Text und Foto)

Es ist mucksmäuschenstill. Jan Dechert will Klarheit schaffen, will Gerüchten entgegentreten, die seit der Rücktrittserklärung des Landesbischof Carsten Rentzing durch evangelische Gemeinden wabern. Es soll Verschwörungstheorien vorbeugen. Mancher in sozialen Netzwerken wittert Verrat und Gestapo-Methoden. Viele konservative Kirchenmitglieder glauben, Rentzing sei von langer Hand geplant gestürzt worden. Wohl auch in Erlbach, einem vogtländischen Dorf, das seit 2014 zu Markneukirchen gehört. Ein Dorf, in dem der Dialekt eher nach bayerischer Oberpfalz als nach Sachsen klingt und das einmal im Jahr Schauplatz einer riesigen Kirmes mit tausenden Besuchern ist.

Dechert, der Erlbacher Pfarrer, liest die Erklärung der Kirchenleitung vor, wonach der Landesbischof aus „eigener freier Entscheidung“ sein Amt zur Verfügung gestellt habe und, dass er politisch „vor allem von rechts“ nicht instrumentalisiert werden wolle. Gut 40 Gläubige sitzen in der über 150 Jahre alten Kirche. Frauen, Männer, drei Konfirmanden, Kinder, hören reglos zu. Eine Seniorin in der ersten Reihe nickt Dechert eifrig zu, der auch um Besonnenheit bittet. Er kennt Rentzing gut.

Dechert hilft an diesem Sonntag beim Gottesdienst in Markneukirchen aus. Der 38-Jährige tauscht Schleife und Talar gegen eine Wattejacke und eilt in die Stadt, während die Gemeinde das letzte Lied singt. St. Nikolai ist eine imposante Kirche mit einem 56 Meter hohen Turm. Die Glocken läuten noch zum Gottesdienst, als Dechert aus dem Auto springt und den Talar unprätentiös direkt auf der Straße überwirft. Er muss schnell auf seinen Platz in der ersten Reihe. Ein ehrenamtlicher Lektor hält eine Lesepredigt. Dechert ist für die Nachricht der Kirchenleitung zuständig.

Wochenlang brodelte ein Konflikt um Rentzings Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung und einen Vortrag in der „Bibliothek des Konservatismus“ in Berlin, einer Institution der Neuen Rechten. Ende September richteten Kirchenmitglieder und Leipziger Pfarrer eine Petition an Rentzing: der Landesbischof solle sich dazu erklären und distanzieren. Über 1.200 Menschen haben bisher unterschrieben.

Rentzing, der als äußerst konservativ gilt, erklärte in der Leipziger Internetzeitung, ihm sei nicht so deutlich bewusst gewesen, dass die Bibliothek zur Neuen Rechten gehöre. Nationalistisches, antidemokratisches und extremistisches Denken sei ihm sein ganzes Leben lang „immer fremd geblieben“, er lehne „jede Form von Extremismus, Nationalismus, Rassismus und Menschendfeindlichkeit ab“. Dann wurden Texte bekannt, die Rentzing als Student für die Publikation „Fragmente“ schrieb. Ein weiterer Mitautor war Wolfgang Fenske, Leiter der „Bibliothek des Konservatismus“ und 2015 Rentzings Gast bei dessen Amtseinführung als Landesbischof.

Die Texte bezeichnet die Landeskirchenleitung als „elitär, in Teilen nationalistisch und demokratiefeindlich“. Für Rentzings Kritiker ist es eine Bestätigung dafür, dass er sich nicht eindeutig von Rechts abgrenze. Konservative im sächsischen Bibelgürtel vom Vogtland bis zum Erzgebirge würden Rentzing nun in eine Opferrolle drängen, heißt es. Mancher Kirchenobere ist sauer, weil der Bischof verstummt sei, die Sprachlosigkeit schade der Landeskirche mehr als die Vorwürfe.

Rentzing-Fans haben eine Petition zum Verbleib im Bischofsamt gestartet – auf der Internetseite Citizengo, die in Spanien von einer Stiftung gegründet wurde, die als fundamentalistsche Splittergruppe gilt und Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe als unchristlich ablehnt. Angeblich haben 20.000 Menschen unterschrieben. Tests zeigen, dass man mehrfach auch unter falschem Namen zeichnen kann.

In Markneukirchen ist der Noch-Bischof präsent wie sonst kaum, hier stehen sie ungebrochen zu ihm. Ein örtlicher Steuerberater hat einen offenen Brief geschrieben. Von bewahrenden und traditionsbewussten Meinungen ist darin die Rede, von einer Hetzkampagne gegen Rentzing und einem Vergleich mit dem Dritten Reich, wonach Mitglieder der Bekennenden Kirche damals verfolgt wurden. Dabei waren es ausgerechnet Liberale, die sich gegen die mit den Nazis sympathisierenden „Deutschen Christen“ wandten.

Matthias Rudolph, der sich als Antifaschist versteht, hat die Petition der Pfarrer mit als erstes unterzeichnet. Auslöser sei, dass Rentzing den Eindruck erweckt habe, mit Leuten von Pegida und der AfD die Zukunft gestalten zu wollen. Man habe den Bischof nicht stürzen wollen, sagt der 55-jährige Vorstand der Leipziger Versöhnungskirche. „Wir wollten, dass er sich eindeutig äußert und distanziert von allen nationalistischen und menschenfeindlichen Ideologien. Das hat er leider erst nach seinem Rücktritt getan.“ Problematisch seien nicht die Texte aus der Jugend gewesen, sondern der Umgang damit. Rentzing habe nur zugegeben, was schon nachgewiesen war. Nach Start der Petition hätten sich andere mit der Vergangenheit beschäftigt und anonym die Texte übermittelt.

Der Leipziger Pfarrer Frank Martin hatte die Petition mit initiiert. „Wir hatten von Bischof Rentzing Klarheit rechtsnationalistsche Tendenzen auf der Straße und im Parlament erwartet und keinen Rücktritt“, sagt der 49-Jährige. Mehrmals habe er das Gespräch gesucht, aber nie eine Antwort bekommen. Wenn man es positiv sehen wolle: Es werde wieder diskutiert, was konservativ, wertkonservativ und rechtsextrem ist, was ins christliche Spektrum gehört. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus nicht. Die Kirche müsse sich fragen, wie man mit Menschen umgeht, die andere wegen einer Ideologie zum Opfer machten. Rentzings jüngste Statements hätte man früher erhofft. „Wir müssen damit leben, als Bischofsmörder dazu stehen, die Wut der Leute sucht sich ein Ventil.“

Es gebe positive Reaktionen, aber auch viel Unverständnis und Zorn von jenen, für die der konservative Bischof wegen ihrer Glaubensvorstellungen wichtig war. „Wir hätten uns unbrüderisch verhalten“, sagt Frank Martin. „Luther hat damals auch eine Petition an die Kirchentür genagelt, weil er eine öffentliche Disputation wollte.“

In der Markneukirchener Kirche hängt ein weißes Banner über einer Gebetstafel, darauf steht: „Für unseren geschätzten Bischof Dr. Carsten Rentzing“. Davor brennen Kerzen. Fünf Jahre war Rentzing hier Pfarrer, bevor er Landesbischof wurde. Mit seiner Frau Maria, ebenfalls Pfarrerin, teilte er sich eineinhalb Stellen. Die Gemeinde sei traurig gewesen, als er ging, aber stolz, dass er Landesbischof wurde, sagt Pfarrerkollege Jan Dechert, der gut drei Jahre mit Rentzing arbeitete. 2011 war der gebürtige Radebeuler mit seiner aus Dresden stammenden Frau nach Erlbach gekommen.

Beurteilen wolle Dechert die „Fragmente“- Texte nicht, weil er sie nicht kenne. Demokratiefeindlichkeit oder Nationalismus habe Rentzing nie erkennen lassen. „Er ist jemand, der großen Respekt vor anderen und ihren Ansichten hat und eine geniale Gabe, verschiedene Sichtweisen auch zusammen zu führen.“ Er habe bei schwierigen Themen Kompromisse herbeigeführt. „Er kann in jeder Sichtweise ein berechtigtes Anliegen erkennen.“ In der Flüchtlingsfrage habe sich Rentzing stark von rechts abgegrenzt, sich für das grundchristliche Anliegen eingesetzt, „den Nächsten zu lieben“. Rentzing sei geprägt vom Bild der biblischen Menschenwürde. Es habe auch Sprachkurse und andere Unterstützung für Migranten in Markneukirchen gegeben.

In Annaberg-Buchholz haben sie auch für ihren Bischof gebetet. Hier war seine erste Pfarrerstelle, zehn Jahre lang blieb der gebürtige Westberliner in der Erzgebirgsstadt. Eine gewisse Schockstarre und Sprachlosigkeit herrscht nach der Rücktrittserklärung. Pfarrer Karsten Loderstädt fing 1999 gemeinsam mit Rentzing in Annaberg an und blieb. „Ich habe ausgesprochen gut mit ihm zusammen gearbeitet“, sagt der 56-Jährige. „Wir hatten in geistlicher Hinsicht eine gesegnete Zeit miteinander.“ In der Gemeinde herrsche Betroffenheit, vor allem an Rentzings früherem Wirkungsort im Plattenbaugebiet.

Loderstädt habe bei Rentzing nicht die kleinste Andeutung wahrgenommen, was zu den Vorwürfen passen würde, ihn aber als zugewandten Menschen erlebt. Der Landesbischof habe als Pfarrer die Arbeit mit sozial Schwachen aufgebaut und für einen Glockenturm geworben und Spenden gesammelt.“ Die Leute dort seien skeptischer als auf dem Dorf. „Rentzing schaffte es, alle zu überzeugen, seine Stärke ist, Leute mitzunehmen.“ In Annaberg erlebte Rentzing, wie ein Teil der Leute zu Pegida nach Dresden fuhr und der andere zur Gegendemo. Es gebe fast alle Flügel der evangelischen Kirche in Annaberg, sagt Pfarrer Loderstädt. Liberale, Konservative, Evangelikale.

Je nach Absender klingt das ganz anders. Aus dem Bezirk ist auch zu hören, dass Liberale eine absolute Minderheit seien und den Mund hielten, um nicht aufzufallen. Die Ausgrenzung lauere überall. Zu groß ist das Risiko, zur Zielscheibe zu werden, wenn man das öffentlich sage. Von fundamentalistischen Extrempositionen ist die Rede, die sich in politischen Ansichten niederschlügen, gerade unter Evangelikalen und Freikirchlern, die vor der großen weiten Welt Angst hätten, die immer größer zu werden scheint. Egal ob es um Flüchtlinge oder Homosexuelle geht.

Für Evangelikale ist die Bibel die absolut wichtigste Lebens- und Glaubensgrundlage. Sie gehören verschiedenen Gruppierungen an – reformiert, lutherisch, baptistisch, methodistisch, anglikanisch – und richten sich oft gegen liberale Lebensentwürfe. Den Wertepluralismus, ein Kennzeichen heutiger Demokratien, interpretieren sie eher als Orientierungslosigkeit. Sachsen ist eine ihrer Hochburgen, im Vogtland, Erzgebirge und in Teilen der Lausitz. „Im Erzgebirge und Vogtland sind die Berge ja ziemlich hoch und der Horizont ist kurz“, sagt ein Funktionsträger. Problematisch sei der demografische Verlust, es fehle seit Kriegsende die Durchmischung, und der Verfall der guten Sitten sei nicht nur bei Jugendlichen ausgeprägt, sondern auch bei den Alten, die zu Pegida gingen. „Wenn wir das nicht lernen, fliegt uns der Laden hier um die Ohren – nicht nur innerkirchlich, sondern in der ganzen Gesellschaft.“

Die Evangelikalen würden gar nicht richtig an die Landeskirche andocken, seien aber auf das Geld angewiesen. Nur gemeinsam kann so viel eingenommen werden, dass 800 Pfarrerinnen und Pfarrer, 500 Gemeindepädagogen und 300 Kirchenmusiker bezahlt werden können, dazu 140 Kindergärten und Schulen und der Erhalt von 1.600 Kirchen und Kapellen.

Für die meisten Christen in Sachsen ist klar: Die Causa Rentzing ist nur ein Puzzlestück eines lange schwelenden Grundkonflikts in der Landeskirche. Eines Konflikts zwischen unterschiedlichen Frömmigkeitsvorstellungen, zwischen der eher liberalen Bibelsauslegung in der alten Handelsstadt Leipzig und den Knochenkonservativen auf den Kämmen des Erzgebirges.

Vor etwa zehn Jahren brach der uralte Konflikt für alle sichtbar auf. Damals waren es die Konservativen, die Altbischof Jochen Bohl angingen. Infolge des 2001 in Kraft getretenen Lebenspartnerschaftsgesetzes hatte die Evangelische Kirche Deutschlands den Weg freigemacht für ein neues Pfarrerdienstrecht. Homosexuelle Lebenspartner von Priestern sollten mit ins Pfarrhaus einziehen können. Die sächsische Landeskirche hatte das 2001 ihren Pfarrern noch verboten und damit die Bibel-Fundamentalisten kurzzeitig befriedet.

Als das Dienstrecht 2012 auch in Sachsen geändert werden sollte, war Rentzing noch einer der Wortführer der Gegenbewegung. Sein Kirchenvorstand hatte zuvor die „Markersbacher Erklärung“ unterzeichnet, die darauf bestand, dass „eine homosexuelle Beziehung nicht im Pfarrhaus gelebt werden darf, weil die dem Wortlaut der Bibel angeblich widerspräche. Aus dem Kreis dieser Evangelikalen entstand im Januar 2012 die Sächsische Bekenntnis-Initiative, in der sich gut ein Fünftel aller Landeskirchen-Gemeinden zusammentat, 30 weitere evangelische Institutionen und mehr als 600 Einzelpersonen.

Ein Kompromiss der Landeskirche sah vor, dass ein homosexuelles Paar im Pfarrhaus zusammen leben kann, wenn der Kirchenvorstand einmütig zustimmt. Selbst das war für die Konservativen zuviel. 2016 mussten die Evangelikalen den nächsten Rückschlag hinnehmen: Die Landeskirche unter Bischof Rentzing ermöglichte erstmals die Segnung von Homosexuellen im Gottesdienst, aber eine Trauung blieb verboten, Rentzing sprach sich dagegen aus.

Am Ende, sagt der Erlbacher Pfarrer Dechert, gehe es darum, im Gespräch zu bleiben, auch mit Rechten. „Menschen verändern geht nur, wenn man mit ihnen spricht.“ So habe er Rentzing verstanden – immer noch einen Zugang zu Menschen zu haben.

So konträr die Positionen in der Landeskirche sind, so viel Gesprächsbedarf gibt es nach Rentzings Rücktritt. Vielen dämmert, dass die gesellschaftliche Spaltung – über Jahre befeuert von rechts – schon länger in der evangelischen Kirche angekommen ist, als den meisten lieb ist. Einige sehen schon die Kirchenspaltung aufziehen, stehen aber auch einer Einigung kritisch gegenüber, die den Preis habe, alles unter den Tisch zu kehren. „Wenn wir es als Christen nicht schaffen, uns an einen gemeinsamen Tisch zu setzen und gemeinsam das Gebet zu sprechen, dann brauchen wir keine Landeskirche mehr.“

Mitarbeit: Ulrich Wolf