Sächsische Zeitung, Seite 3, 19.12.2019
Die Frau im Hintergrund
Offiziell distanziert sich die AfD von der rechtsextremistischen Identitären Bewegung. Ausgerechnet eine enge Vertraute von Bundeschef Tino Chrupalla hat offenbar wenig Berührungsängste.
Von Tobias Wolf und Maximilian Helm
Frauen in Männerberufe zu drängen, das sei Missbrauch, sagt sie. Identitäre Frauen sollten lieber für Familie, Tradition und Heimat einstehen. Die Frau sei eben eine konservative Natur. All das erzählt Lore Waldvogel im Podcast „Leuchtfeuer“ der Identitären Bewegung Berlin-Brandenburg, einer Art Talkrunde im Internet. Der Verfassungsschutz stuft die Identitären als rechtsextremistisch ein.
Für ihre Thesen erhält die Frau im Netz Zustimmung. „Warum tritt Lore Waldvogel nicht öfter in Erscheinung?“, fragt eine Hörerin. Eine Antwort gibt es nicht.
Lore Waldvogel existiert wohl gar nicht. Der Name ist vermutlich nur das Pseudonym der Wissenschaftlerin Dr. Claudia R., die zu einer engen Vertrauten von AfD-Bundeschef Tino Chrupalla aufgestiegen ist und seit 2017 sein Bundestagsbüro leitet. Jenes sächsischen Malermeisters, der bei der Bundestagswahl 2017 dem heutigen sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer dessen Görlitzer Wahlkreis abtrotzte. R.s mutmaßliche Kontakte zur Identitären Bewegung (IB) könnten problematisch werden. Die IB steht auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD. Sie selbst bestreitet die Kontakte vehement. Wer ist Claudia R.? Wie hat sie sich radikalisiert? Welchen Einfluss übt sie auf den AfD-Chef aus? Eine Rekonstruktion.
Görlitz und die Mystik
Ein Bürgerhaus aus der Gründerzeit. Die braune Fassade ist in die Jahre gekommen. Hier und da bröckelt der Putz. Drinnen wurde renoviert. Glänzende Messinggriffe, Holztüren mit Fenstern, gedrechselte Geländer. Für 65 Quadratmeter, zweieinhalb Zimmer mit Blick auf den Wilhelmsplatz, sind 400 Euro im Monat fällig.
Der Name der Büroleiterin steht auf der Klingel der Wohnung im oberen Stock, vor dem Namen ein Doktortitel. Niemand öffnet. In der Nachbarschaft heißt es, Claudia R. komme nur alle paar Wochen, seit sie in Berlin arbeitet. Sie sei eine freundliche Frau, lebe seit 2016 hier und nutze seltsamerweise Pseudonyme: „Irgendwas mit Vogel.“ Einer Zeugin zufolge sollen sich Claudia R. und Chrupalla 2016 in Görlitz kennengelernt haben. Weder R. noch Chrupalla wollen sich dazu äußern. Stattdessen antwortet die Anwaltskanzlei Höcker, die auch den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoan gegen den TV-Entertainer Jan Böhmermann vertrat. Ihr Mandant teile mit, dass es an Mitarbeitern von Abgeordneten grundsätzlich kein öffentliches Informationsinteresse geben dürfte.
Für Dr. Claudia R. antwortet die gleiche Kanzlei. Jede Verbindung zur Identitären Bewegung wird bestritten. Ein unmissverständliches Dementi, dass es sich bei R. um Lore Waldvogel handelt, gibt es allerdings nicht.
Während ihrer Zeit in Görlitz war R. im Vorstand der Jacob-Böhme-Gesellschaft tätig. Der Verein pflegt das Erbe des Görlitzer Mystikers, der Natur und Gott gleichsetzte. Ex-Mitstreiter erinnern sich an Claudia R. und an ihren schnellen Aufstieg in den Vereinsvorstand. Ab April 2017 sollte sie Kontakte zur Görlitzer Bürgerschaft aufbauen. Ein Ex-Vorstandskollege sagt, sie sei offen und ehrgeizig auf die Leute zugegangen, obwohl sie erst zugezogen war.
Claudia R. sprach mit vielen Lokalpolitikern und Künstlern – nie unvorbereitet, erinnert sich eine Frau aus dem Verein. „Sie war sehr misstrauisch, wollte vor Treffen oft alles über die Gesprächspartner wissen.“ Als 2018 ein Jacob-Böhme-Institut gegründet werden sollte, sei R. aus „Zeitgründen“ überraschend ausgetreten. Ihre Arbeit für Chrupalla erwähnte sie nicht. Ein anderes Mitglied behauptet, sie habe politische Manifeste für verschiedene Auftraggeber geschrieben. Die Texte gesehen hat jedoch keiner der früheren Mitstreiter.
Bei Tino Chrupalla hatte sich Claudia R. zwei Wochen nach der Bundestagswahl 2017 als „Büroleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin“ beworben. Die 43-Jährige schrieb: „Mit meiner psychologischen Sensibilität und meinem Gespür für die seelische Verfassung der Menschen in Deutschland möchte ich Sie gerne dabei unterstützen, erfolgreiche Reden zu halten, die das herrschende Meinungsklima nachhaltig verändern.“
Am 8. November dieses Jahres hält Tino Chrupalla eine Rede. Anlässlich des Mauerfalljubiläums und mit Blick auf Kanzlerin Angela Merkel spricht er von „Herrschafts- und Zersetzungsstrategien“, die sie bei der FDJ gelernt habe. „Agitations- und Propaganda-Kenntnisse“ seien wertvolles Wissen. In gemäßigten AfD-Kreisen gilt die Rede als Versuch, dem AfD-„Flügel“ um Rechtsaußen Björn Höcke zu gefallen.
Ähnliche Begriffe hatte Chrupalla nach Berichten der Sächsischen Zeitung am Jahresanfang über den AfD-Kreisparteitag in Niesky benutzt. Damals schrieb er einen Brief an seinen Kreisverband, den viele als „Maulkorberlass“ betrachteten. Niemand, außer den Chefs, solle mehr mit der Presse reden, hieß es. Von „Spaltungs- und Zersetzungsstrategie“, „Feindpropaganda“ und von „als Journalisten getarnten Zersetzungsagenten“ war darin die Rede.
Von Indien nach rechts außen
Claudia R. stammt aus einem Elternhaus in Südbaden. Ihr Vater ist ein pensionierter Lateinlehrer. Nach dem Abitur reist R. mit dem Rucksack durch Indien, begeistert sich für Hinduismus und Religionswissenschaften, bleibt dann mehr als ein Jahrzehnt an der Freien Universität Berlin. Mit 35 Jahren promoviert sie in Literaturwissenschaft über Gewalt in der englischen Literatur.
Ihr Doktorvater beschreibt Claudia R. als Menschen, der viele Ideen hatte. Sie habe sich ausprobiert, Gedichte und Liedtexte geschrieben, versucht, künstlerische Aktionen zu organisieren. Sie versuchte wohl, in der Kulturszene Fuß zu fassen. 2010 kuratiert R. eine Ausstellung bei Halle an der Saale, an der auch die slowenische Band Laibach beteiligt ist, die mit faschistoiden Elementen in der Musik und Nazi-Ikonografie in der Inszenierung provozieren.
Der Doktorvater erinnert sich an ihren letzten Besuch bei ihm. Mit Blick auf die mögliche Hinwendung zu rechtsradikalen Gedanken und mutmaßliche Kontakte zur Identitären Bewegung sagt der inzwischen emeritierte Professor: „Ich habe mit großem Bedauern beobachtet, wie sie sich in diese Richtung geäußert hat.“ Er habe sich gut mit ihr verstanden, ihr Promotionsprojekt spannend gefunden und sich dafür eingesetzt, dass sie einen Preis bekommt. „Diese bedauerliche Entwicklung kam später, es war ein allmählicher Prozess, und der Kontakt wurde immer diskontinuierlicher.“
Um den Jahreswechsel 2012/13 ist Claudia R. das erste Mal seit ihrer Jugend wieder auf dem Subkontinent. Als die Jobsuche in Indien scheiterte, sei sie enttäuscht gewesen, so der Doktorvater. In dieser Zeit sinniert Claudia R. im Netz über Hoffnungslosigkeit als kollektives Problem, über ihr „selbst verhängtes Exil“, sie hätte raus gemusst aus Deutschland. „Wenn du beginnst, dich allein und traurig inmitten deiner Verwandten zu fühlen, muss etwas falsch sein.“ Sie schreibt über Eltern in Berlin, die ihren Kindern keine Werte und Grenzen vermitteln würden, über die EU als ein „totalitäres“ Europa, das die wahre Multikulturalität zerstöre. Über angeblich fehlende Pressefreiheit in Deutschland. Im gleichen Jahr schreibt sie auch für eine badische Lokalzeitung.
Im Internet sinniert Claudia R.: Die deutsche Jugend sei die traurigste, vielleicht wegen der Kriegsschuld. Sie selbst habe glücklicherweise eine andere Option gefunden. Vielleicht ist diese „Option“ die Wahl eines Pseudonyms. Denn jemand wie Lore Waldvogel kann schreiben, was andere öffentliche Personen mit einem Faible für Mystiker nie schreiben würden. In den folgenden Jahren entstehen unter dem Pseudonym immer mehr völkisch-nationalistische Texte für einschlägige Zeitschriften und Blogs.
Waldvogels erster Text in der Zeitschrift „Sezession“ erscheint im Dezember 2015. Das Magazin des Verlegers Götz Kubitschek versteht sich als Ideengeber der Neuen Rechten. Waldvogel beschreibt eine „Schwächung der deutschen Volksseele“, angeblich verursacht durch die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten.
Ein gutes Jahr später wird Björn Höcke in Dresden eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern.
In „Sezession“ rezensiert Waldvogel 2016 auch das Buch von Helmut Roewer, Ex-Verfassungsschutzchef in Thüringen. Darin schließt sie sich dessen Einschätzung an, dass „der Erste Weltkrieg ein von langer Hand geplanter Vernichtungsschlag gegen Deutschland“ gewesen sei. Claudia R. trifft Roewer 2018 persönlich, organisiert eine Veranstaltung mit ihm im Bundestag – auf Einladung von Tino Chrupalla.
Die Kunstidentität Lore Waldvogel fürchtet die angeblich bevorstehende Vernichtung des deutschen Volkes. Ebenfalls 2016 erscheint in „Sezession“ ein Text mit der Überschrift „Muslime, Migranten und Vergewaltigungen: ein Blick auf die Hintergründe“. Darin gibt sich Waldvogel betont sachlich, aber in einem Kommentar unter ihren Text schreibt sie: Die Ursache des „erneuten Versuchs der Vernichtung Deutschlands“ liege nicht im Islam. Der sei nur das Werkzeug. Es handele sich um eine Aktion von Geheimdiensten, die sich nur wenige Staaten leisten könnten.
Der Abgeordnete Chrupalla benutzt Begriffe wie „Umvolkung“. Bei einer Veranstaltung in Oppach spricht ihn 2018 ein Mann an, wie TV-Aufnahmen zeigen: „Es ist ja nichts anderes als Völkermord. Weil, wenn es danach uns Deutsche nicht mehr gibt, sondern irgendein Mischvolk, dann sind wir Deutsche weg. Das letzte Mal gab es so was ‘45 – die Jungs sind am Galgen geendet in Nürnberg. Das müsste man doch mal ansprechen.“ Chrupalla nickt, sagt, da könne man „von einer gewissen ‚Umvolkung‘ reden. Dieses Wort sollte man einfach mal benutzen.“
Immer wieder bezieht sich Lore Waldvogel in ihren gedanklichen Konstruktionen auf den Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung.
Auch die reale Claudia R. ist Jung-Expertin. Sie gab zu dessen Thesen 2016 ein Seminar an der „Bibliothek des Konservatismus“ in Berlin, die als Denkfabrik der Neuen Rechten gilt. Das ist in einem Brief belegt, der beim Verein Apabiz in Berlin archiviert ist.
Das identitäre Problem der AfD
Man würde gern mit Dr. R. über Kontakte zu den Identitären sprechen, doch sie lehnt ab. Ihr Anwalt teilt mit: „Unsere Mandantin stand und steht in keinerlei Kontakt zur Identitären Bewegung.“ Zwei Zeugen versichern hingegen, bei der Stimme im Podcast der Identitären Bewegung handle es sich um die von Claudia R.
Im Identitären-Podcast referiert Lore Waldvogel über „völkischen Feminismus“ nach Mathilde Ludendorff, die der „Spiegel“ schon 1960 als „Urgroßmutter des deutschen Antisemitismus“ bezeichnet hatte. Ludendorfs Ehemann Erich hatte 1923 zusammen mit Adolf Hitler gegen die Weimarer Republik geputscht.
Lore Waldvogel sinniert dabei über die Rolle der Frau und der Mutter. Im Podcast sagt sie: „gesunde Mütter“ seien „logischerweise die Voraussetzung für ein schaffenskräftiges Volk“. Nur ein Volk von solchem Format könne sich im „Wettkampf der Nationen behaupten.“
Auf einem Twitter-Konto mit dem Namen „@lore_waldvogel/forestbird“ erschienen bis vor einigen Tagen Verschwörungstheorien, wie zum Terroranschlag am 11. September 2001 in New York. Im Mai 2018 verweist Waldvogel auf einen Beitrag, in dem es heißt: Alle, die „free tommy“ (Freiheit für den Rechtsradikalen Tommy Robinson) riefen, hätten geschwiegen, als „die 89-jährige Ursula Haverbeck ins Gefängnis ging.“ Haverbeck ist eine mehrfach verurteilte Holocaust-Leugnerin.
Das Twitterkonto legt auch Kontakte zu den Identitären nahe – etwa zum österreichischen IB-Chef Martin Sellner und zum IB- Podcast „Leuchtfeuer“. Mehrfach ist auch über den Görlitzer Mystiker Böhme zu lesen – Spezialgebiet von Dr. Claudia R.
Das Twitterkonto, das seit Juli 2016 regelmäßig Beiträge publizierte, wurde während der Recherchen zu diesem Artikel in der vergangenen Woche plötzlich gelöscht.
Ebenso darauf zu lesen war bis dahin, dass „@lore_waldvogel“ auch Beiträge der rechtsradikalen Ein-Prozent-Bewegung, der NPD und des vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Ex-Pädagogen Nikolai Nerling abonniert hatte. Für Nerlings inzwischen abgeschalteten YouTube-Kanal „Der Volkslehrer“ hatte Chrupalla sich im Juni 2018 interviewen lassen.
Der Anwalt des Abgeordneten teilt mit, dass Chrupalla keine Kenntnisse „wie etwa zu einem angeblichen Kontakt zur sogenannten Identitären Bewegung“ seiner Büroleiterin habe.
In der AfD gibt es schon lange Streit um den Umgang mit den Identitären. Obwohl sie auf der Unvereinbarkeitsliste stehen, sympathisieren insbesondere Anhänger des Flügels um Björn Höcke ganz offen mit den Rechtsextremisten, von denen es in Deutschland etwa 600 geben soll.
Gegenüber der Jungen Freiheit sagt Chrupalla im Interview, er sei zu wenig vertraut mit dem Fall der Identitären Bewegung und ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Solange man die Strukturen der Gruppe nicht genau kenne, könne man sich nicht dafür einsetzen, weil „wir sonst zu Recht in Mithaftung genommen werden können.“ Ob das auch für seine Büroleiterin gilt?
Mitarbeit: Ulrich Wolf