Sächsische Zeitung, Seite 3, 29.04.2020
Prädikat: „Beste Jugendarbeit“
Über Jahre soll ein Kampfsporttrainer Jungen sexuell missbraucht haben. Der Fall zeigt, wie einfach es Täter haben, wenn sie strategisch vorgehen und wenn Ermittler zögern.
Von Tobias Wolf
Die Stimme auf dem Anrufbeantworter klingt warm und freundlich. „Am besten erreichen Sie mich unter dieser Nummer wochentags am Vormittag.“ Ansonsten solle man eine Nachricht hinterlassen. Thomas H., dem die Stimme gehört und der sich selbst Max-Thomas nannte, kann seine Mailbox schon lange nicht mehr abhören.
Die Staatsanwaltschaft hat den 50-jährigen Kampfsporttrainer wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 32 Fällen angeklagt. Schwer heißt, der Täter ist in die Opfer eingedrungen. Außerdem soll er in 28 weiteren Fällen Kinder sexuell missbraucht haben. Das alles soll sich zwischen Oktober 2012 und Februar 2019 ereignet haben. Die Opfer sind zehn männliche Kinder und Jugendliche.
Wie viele Betroffene es wirklich gibt, ist unklar. Ebenso, wie viele Übergriffe der Mann an Kindern unterhalb der Strafbarkeitsschwelle begangen hat – wie etwa Berührungen. Mehr als hundert Minderjährige hat H. über die Jahre trainiert, Dutzende durch die Jugendweihe begleitet und unzählige in fast drei Jahrzehnten als Sozialarbeiter und Erlebnispädagoge betreut.
An mindestens vier Schulen hat H. Kinder in Aikido trainiert, einer defensiven japanischen Kampfkunst. Ausgerechnet Aikido, das wegen moralischer Aspekte eher Lebensweg als Kampfkunst ist und deshalb als Schutzsport für Kinder gilt, die darüber erstarken und lernen sollen, mit Konflikten umzugehen. H.s Trainer und Mentor, der eine Aikido-Schule in Dresden führt, sagt: „Für mich ist das alles verstörend, weil es dem Aikido-Gedanken völlig widerspricht, was er da getan haben soll. Man denkt, man kennt die Leute.“
Dresden-Gruna. 31. Oktober 2019. Kurz nach Mitternacht. Ein Dutzend Polizisten fahren zu einem schmucken dreistöckigen Altbau mit Bogenfenstern. Das Ziel: die Wohngemeinschaft im Erdgeschoss. Auf 160 Quadratmetern leben hier drei Männer für 1.100 Euro Kaltmiete zusammen, ein 30-Jähriger, ein 61-Jähriger und H., der auch im Wintergarten Training anbietet. Nur der Trainer ist in jener Nacht zu Hause. Er lässt sich widerstandslos festnehmen.
Als der ältere Mitbewohner heimkommt, kleben Siegel an H.s Türen. Im Flur liegt ein Zettel: „Bin verhaftet worden.“ Das blieb im Haus nicht unbemerkt, erfährt der Mitbewohner. „Die Nachbarskinder haben gefragt, warum nehmen sie den mit, das ist doch der netteste Mensch der Welt.“
Für die Dresdner Aikido-Szene, die einige Hundert Aktive umfasst, bricht eine Welt zusammen. H. ist ein geachteter Trainer und Aikidomeister. Zum Zeitpunkt der Verhaftung liegt der Staatsanwaltschaft eine Anzeige vor. Die Polizei gründet die Sonderkommission Tatami, benannt nach der Aikido-Matte. Fünf erfahrene Ermittler werden eingesetzt. Es könnte der Eindruck von Entschlossenheit entstehen, wäre die erste Anzeige nicht schon 16 Monate her.
Aikidokas, Freunde, die Kollegen vom Projekt „Brücke – Jugendweihe für Jungen“- fast alle, die Thomas H. gut kennen, sind fassungslos über die Vorwürfe. Unvorstellbar, unmöglich, „der doch nicht“. H. ist beliebt, er liebt einfache Dinge wie Marmeladenbrötchen, frühstückt gern lang und trinkt mit Freunden in der WG-Küche Tee.
Von Charisma ist die Rede, von einem, dem man jedes Problem anvertrauen kann, vom Erstklässler bis zum pubertierenden Teenager. Nett und einfühlsam, männlich und selbstbewusst, souverän und höflich. Einer, der die Jungs nicht zu Machos erzieht. Ein Vorbild. Vor allem Mütter sollen das gern geglaubt haben. Auf sie habe er eine besonders starke Wirkung ausgeübt.
Anna Sauer*, eine enge Freundin H.s, erzählt, dass sie noch Probleme hat, sich das alles vorzustellen. Bis 2018 half sie H. im Training. „Bevor das passiert ist, dachte ich, wenn über so etwas im Fernsehen berichtet wurde, dass man für die die Todesstrafe wieder einführen sollte“, sagt die 44-Jährige, die H. auch im Gefängnis besucht. „Jetzt ist das nicht mehr so einfach, wenn es einen Menschen betrifft, den man zehn Jahre als sehr guten Freund erlebt hat.“
Sauer fungiert als eine Art Schnittstelle und informiert H.s Freunde und Bekannte. „Überall Entsetzen, Ungläubigkeit, Nicht-glaubenwollen. Ich habe junge Männer zusammenbrechen und weinen sehen.“
- arbeitet seit den 1990er-Jahren als Einzelfallhelfer, der in schwierige Familien geht, um bei der Erziehung zu helfen. Als Jugendweihebetreuer organisierte er ab 2010 Abenteuertouren, Zeltcamps in der Wildnis mit Lagerfeuer und spirituellen Erfahrungen. Fotos davon zeigen Thomas H. in kurzen Hosen oder Kapuzenpulli, die dunkelblonden Haare kurz geschoren.
- sei ein „Fest der Männlichkeit“, sagt eine, die ihn kennt. Ein toller Spielpartner für Kinder und Jugendliche, ein anderer. „Manche kennen ihn 20 Jahre und mehr. Prädikat: Beste Jugendarbeit, sehr umsichtig, fleißig, konsequent, gut vorbereitet.“
Gregor Mennicken ist Facharzt für Psychotherapie und Spezialist für sexualisierte Gewalt. „Wenn Täter gezielt Mütter einwickeln, traut sich das Kind nicht mehr, etwas Negatives über den Mann zu sagen, weil es die ganze Zeit gespiegelt bekommt: der ist toll oder was auch immer“, sagt der 50-Jährige. „Dann sehen die Kinder den Makel bei sich, finden zwar komisch, was der Täter mit ihnen macht, kommen aber nicht auf die Idee, dass das nicht okay ist.“
Die Mutter sei als Expertin für ihr Kind oft arglos, weil sie ihre Sympathie für den Täter damit verwechsle, dass sie glaubt, ihn „geprüft“ zu haben. Die Strategien von Tätern seien oft gleich. Eine der wichtigsten sei, Bezugspersonen für sich gewinnen.
„Es ist fast nie der Fremde, sondern immer einer, der sich über Jahre Vertrauen aufgebaut hat und dem man seine Kinder einfach so mitgibt“, sagt Mennicken. „Einer, der sich immer ein bisschen mehr engagiert als andere.“ Schlaue Pädophile sehen schnell, wer welche Bedürfnisse hat und wer in Institutionen wichtig ist. Solche Täter hätten praktisch freie Bahn.
Im Nachhinein ist manchem H.s langes Single-Dasein aufgefallen. Mindestens zwölf Jahre soll der Katzenfreund allein gelebt haben. „Ich glaube, dass er Schiss hatte vor Erotik mit Leuten, die ihm das Wasser reichen können“, sagt einer, der ihm früher näherstand. Nach der Festnahme bekommt Paul Carstens* einen Anruf von H.s Bruder, der ihn um Hilfe bittet. Der 21-jährige Carstens betreut die Internetseite des Trainers. Fotos, Texte und ein Video werden gelöscht. Nur eine Notiz bleibt: „H. steht bis auf Weiteres als Trainer nicht mehr zur Verfügung.“ Keine Erklärung, kein Wort zu den Vorwürfen.
H., der Mann, der wohl über Jahre ein Doppelleben führte, kann auf sein Umfeld zählen. Auf Freunde, die seine Wohnung ausräumen, auf Aikidokas wie seinen Trainer, der an den Schulen H.s Übungsmatten und Trainingsmaterial einsammelt.
Carstens habe sich gefragt, ob er etwas nicht bemerkt hat. „Da war nix.“ Wegen ihm habe H. an Schulen trainiert. Der Junge besucht mit acht Jahren einen Ferienkurs in einer Aikidoschule. Die Eltern hätten H. gefragt, ob er an der Grundschule nahe der Gläsernen Manufaktur Aikido anbieten könnte. Dienstags und donnerstags trainieren sie mit dem Mann, der für viele zum väterlichen Freund wird, am Nachmittag die Kleinen, am frühen Abend die Großen. Zur Grundschule kommen eine Oberschule in Dresden-Mickten nicht weit vom Elbepark und eine in Radebeul. Eine Kinderpsychologin vermittelt H. an eine Schule im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, die geistig behinderte Kinder betreut und assistiert ihm.
Man würde die Schulen gern nach dem Trainer fragen, ausgerechnet die staatlichen Schulen mauern. Die Leiterin der Micktener Oberschule mokiert sich zunächst über Medienberichte und sagt dann: „Das ist eine persönliche Enttäuschung für mich.“ Sie glaube nicht, dass es an ihrer Schule Missbrauch gab. Oberschule Radebeul: keine Fälle, kein Kommentar. Auch die Grundschulleiterin will nicht reden. „Ich bin viel zu sehr involviert, kenne ihn zu viele Jahre.“
Dabei ist es die Grundschule, die wegen sexueller Übergriffe im Juni 2018 – 16 Monate vor H.s Festnahme – in den Fokus der Kriminalpolizei gerät. Die Aikidoschüler Bert Claus und Konrad Pfeiffer zeigen Thomas H. an, nennen Namen und beschreiben Übergriffe am Beispiel eines damals etwa Zwölfjährigen. Sie hatten beobachtet, wie H. bei Übungen seltsame Bewegungen macht, sagt der heute 19-jährige Claus. Vor allem zum Trainingsabschluss, wenn sich die Sportler gegenseitig massieren. „Der hat den Kindern an den Penis gefasst, daran rumgemacht.“ Er sei nach der Anzeige erleichtert gewesen, sagt Claus. Endlich passiere etwas. Ein Trugschluss.
Wo es um Sport geht, ist die Gefahr von Übergriffen groß – wegen der vielen Möglichkeiten der Berührung, sagt Psychotherapeut Mennicken. Aikido ist Kontaktsport. Systematisch testen Täter Grenzen ihrer Opfer. Gleichzeitig schaffen sie Nähe über eine exklusive Beziehung für das Kind, Lob, Geschenke oder sonstige Hervorhebungen gegenüber anderen. „Missbrauch ist das Ergebnis einer langen Planung.“ Ein Junge, der keine oder keine positiv besetzte Vaterfigur hat, den könne jemand, der so kraftvoll wie H. erscheint, heranziehen.
Bert Claus kennt Thomas H. seit der Jugendweihe, war mit ihm im Trainingslager, Saunabesuch inklusive. Mit den Erfahrungen als Sozialarbeiter vermittelt H. zwischen Claus und dessen Eltern. „Ich hatte mit vielen Sachen meine Probleme.“ H. hilft. Claus und Pfeiffer wenden sich im Mai 2018 an eine spezielle Beratungsstelle in Dresden-Blasewitz. „Wir dachten, wir können das alleine händeln und haben gehofft, dass er einfach damit aufhört“, sagt Claus. Die Ansprache fällt den Jungen schwer, H. habe nichts abgestritten. Der Berater habe zur Anzeige geraten. Wer merke, dass er pädophil sei, könne nicht weiter mit Kindern arbeiten. Es soll schon ein Vorfall aus dem Jahr 2012 dokumentiert sein, der nicht angezeigt wurde. Es ging um Berührungen des Geschlechtsteils. Davor gab es ähnliche Vorwürfe im Umfeld des Jugendweihe-Projekts, auch ohne Anzeige.
Nach ihrer Anzeige hören Claus und Pfeiffer eineinhalb Jahre nichts, weder von der Polizei noch vom Trainer. Bert Claus sagt: „Wir dachten, kein Trainingslager findet mehr statt nach der Anzeige“. Aber es gibt noch zwei, im Herbst 2018 und kurz vor der Festnahme. In einem Lager soll es zu einem Übergriff gekommen sein. Die Staatsanwaltschaft will sich nicht dazu äußern, ob es nach der Anzeige der Schüler schon Ermittlungen gab und verweist auf das anstehende Gerichtsverfahren.
Es sind immer noch Monate bis zum Zugriff der Ermittler in dem Altbau in Dresden-Gruna, als sich weitere Indizien abzeichnen. Die Schule für geistig behinderte Kinder hatte sich schon vor Thomas H.s Auffliegen mit dem Thema sexuelle Gewalt beschäftigt und Lehrer und Schüler weitergebildet. Wohl deshalb hätten sich die Betroffenen von sich aus gemeldet, sagt der Schulleiter. Vier Jahre habe H. an der Schule gut 30 Kinder trainiert. Drei Fälle sind bislang bekannt. Offenbar ging H. geschickt vor. Die Helferin bemerkte nichts. Wenn die Psychologin zur Toilette ging, soll er die Genitalien einiger Kinder berührt haben. Einem soll er sogar während des Trainings unter die Hose gefasst haben.
Für den Experten Gregor Mennicken ist klar: „Ein Sexualtäter handelt planvoll, beobachtet, stellt Vertrauen her und schlägt irgendwann zu.“ Ihre Neigung sei potenziellen Tätern früh bewusst, weshalb sich viele Berufe oder Vereine suchen, in denen sie mit Kindern in Kontakt kommen: Trainer, Lehrer, Erzieher, Kinderarzt. „Wenn die Täter ihre Strategien auf unterschiedliche Zielgruppen einstellen, wird es für das Kind schwierig, ihm wird nicht geglaubt, behinderten Kindern erst recht nicht.“
Der Schulleiter konfrontiert Thomas H., der die schweren Vorwürfe nicht abstreitet. „Er hat sich die ganze Zeit die Hände vors Gesicht gehalten und immer wieder ‚Ornee‘ gesagt.“ H. sei fristlos gekündigt worden. Der Schulleiter erfährt, dass es eine Anzeige in Dresden gibt und wendet sich an die für den Landkreis zuständige Polizei Pirna. Die Schule und die Eltern der Kinder zeigen Thomas H. an.
Am 29. August 2019 schickt die Behindertenschule eine Meldung über ein „besonderes Vorkommnis“ an das Landesamt für Schule und Bildung, benennt den Trainer und erklärt, dass Anzeigen vorliegen. Auch die anderen Schulen, an denen Thomas H. trainiert, benennt der Schulleiter. Informiert werden die Schulen wohl nicht sofort durch das Landesamt. Aus der Behörde heißt es, man habe erst Ende September einen Hinweis von einem freien Träger in einer Behinderteneinrichtung bekommen. „Der Träger hat uns nur informiert, dass es eine Anzeige geben wird, es war nur ein Hinweis, keine konkreten Dinge“, so eine Sprecherin. Man habe die Schulen vorsorglich informiert. „Wir können ja nicht jeden unter Generalverdacht stellen.“ Man sei aber in Kontakt mit der Polizei gewesen.
Die Polizei verweist dazu auf die Staatsanwaltschaft, die auf das anstehende Gerichtsverfahren verweist. Bis zur Anklage habe H. die Vorwürfe nicht abgestritten, sagt Oberstaatsanwalt Jürgen Schmidt. Erst einen Tag vor der Festnahme im Oktober 2019 sei das Ermittlungsverfahren bei seiner Behörde bekannt geworden.
Wie kann es sein, dass Anzeigen wegen Missbrauchs zunächst wohl nur zögerlich verfolgt werden und so weitere Kinder sexuell missbraucht wurden? Vielleicht zeigt das der Gerichtsprozess. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass öffentlich verhandelt wird. Das Schulamt wird beantworten müssen, warum es gut einen Monat dauert, betroffene Schulen zu informieren. „Kinderschutzkonzepte mit klaren Regeln sind unabdingbar“, so Experte Mennicken.
H.s früherer Aikido-Trainer sagt, er sehe sich als Freund H.s, der den Menschen hinter den Taten erkennen will. Anna Sauer sagt, Thomas H. habe beim letzten Besuch im Gefängnis geäußert, er wolle verhindern, dass ein Opfer im Prozess aussagen muss, Das wolle er selbst tun. Sauer hofft, dass der Fall Thomas H. mehr hinterlässt, als Schäden bei den Betroffenen. „Je sensibler eine Gesellschaft für diese Themen ist und vielleicht solche Menschen nicht von vornherein verurteilt, desto mehr würden sich dann vielleicht helfen lassen. Sie sind nicht verantwortlich für die Neigung, aber für die Tat, wenn einem Kind was passiert.“
*(Namen geändert)