Sächsische Zeitung, Seite 3, 20.07.2020

Das große Löschen

Zwischen Innenministerium und Verfassungsschutz tobt ein heftiger Konflikt über den Umgang mit der AfD. Das Amt soll Daten im großen Stil vernichten.

Von Tobias Wolf und Karin Schlottmann

Der unscheinbare Block mit der beigefarbenen Fassade liegt im umzäunten Sicherheitsbereich des Landeskriminalamts. Abgeschirmt von Schallschutzwänden der Autobahn 4 auf der einen, Bäumen und einem Wohngebiet auf der anderen Seite arbeiten hier im Dresdner Norden gut 200 Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz.

Ihr Auftrag ist die Bekämpfung von Extremisten und islamistischen Gefährdern. Der Nachrichtendienst ist keine Behörde wie andere, die Arbeit ist von höchst politischer Natur. Wie das Amt agiert, hängt auch von Faktoren ab, die in diesem Haus kaum jemand beeinflussen kann – zum Beispiel Personalentscheidungen.

Vor Monaten sickerte durch, dass Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) den Präsidenten des Verfassungsschutzes ablösen will. Gordian Meyer-Plath muss gehen. Der Umgang des Ministers mit ihm ist nicht von feiner englischer Art, heißt es im Amt. Es gibt Mitarbeiter, die entsetzt sind über den Rausschmiss. Der neue Chef ist der Jurist Dirk-Martin Christian. Er hat früher selbst im Landesamt gearbeitet. Inzwischen ist er Referatsleiter im Innenministerium, wo er seit Frühjahr 2019 die Fachaufsicht über den Verfassungsschutz ausübt und Weisungen erteilen kann.

Zwischen ihm und dem Amt sind heftige Konflikte überliefert. Es heißt, Dirk-Martin Christian blockiere die Arbeit der Behörde, vor allem im Bereich Rechtsextremismus. „Wenn Christian kommt, wirft uns das um Jahre zurück“, sagen Experten. Die Stimmung sei bleiern, einige würden am liebsten gehen. Auch Extremismus-Beobachter aus gemeinnützigen Initiativen wundern sich über Meyer-Plaths Demission: „Die verstehen ihren Job und haben die richtigen Dinge im Blick.“ Das Amt müsse wohlmalwieder als Prügelknabe für Versagen an anderer Stelle herhalten.

Die Stimmung zwischen Ministerium und Behörde ist seit Langem nicht gut. Ein Grund ist der Abend des 27. August 2018. Einen Tag nach dem tödlichen Messerangriff auf einen Chemnitzer mündete eine Demonstration mit gut 6.000 Pegida-Anhängern, Hooligans und Neonazis in Ausschreitungen. Sie liefen mit Hitlergruß durch die Stadt und griffen Gegendemonstranten, Ausländer, Polizisten und Journalisten an. Die nur gut 300 Beamten hatten keine Chance, Gewalttäter festzunehmen und große Mühe, die Lage unter Kontrolle zu halten. Es war einer der am schlechtesten vorbereiteten Polizeieinsätze in Sachsen.

Innenminister Wöller nahm die Polizei in Schutz und schob die Verantwortung auf den Verfassungsschutz. Das Amt habe zu spät über die Lage informiert, glaubte er. Nach Recherchen des Tagesspiegels warnte das Landesamt damals aber schon gegen Mittag, dass Tausende Rechtsextremisten aus ganz Deutschland nach Chemnitz kommen würden. Die Empfänger der Information: Versammlungsbehörde, Polizei Chemnitz, Landeskriminalamt, Bundespolizei und der Verbund der Verfassungsschutzbehörden. Trotzdem lehnte Wöller Hilfe aus anderen Bundesländern ab.

Außer diesen Schuldzuweisungen verhageln tief greifende Meinungsverschiedenheiten in der Extremismusbekämpfung die Stimmung. Wie der SZ vorliegende Dokumente nahelegen, fühlt sich der Verfassungsschutz vom Ministerium ausgebremst. Anlass ist die AfD. Meyer-Plath wehrt sich gegen Lösch-Anweisungen seines künftigen Nachfolgers, die einen nachrichtendienstlichen Schaden, einen bundesweiten Ansehensverlust im Verfassungsschutzverbund der Länder sowie „einen politischen Schaden für das Innenministerium und Minister Wöller“ persönlich zur Folge hätten.

Demnach soll das Landesamt Daten von AfD-Abgeordneten löschen, die bisher im Rahmen eines Prüffalls in der Behörde erhoben wurden und zur Einschätzung extremistischer Bestrebungen nötig seien. Referatsleiter Christian argumentiert mit dem besonders geschützten Mandat von Abgeordneten, obwohl es Regeln zur Beobachtung extremistischer Bestrebungen gibt, und, obwohl die Löschanweisung einen empfindlichen Schaden für die bundesweite Sicherheitsarchitektur bedeutet.

„Der Freistaat Sachsen würde öffentlich wahrnehmbar in einem der dynamischsten Felder des modernen Rechtsextremismus, der auch als Nährboden für gewaltbereite Rechtsextremisten von Bedeutung ist, seine Arbeit einstellen“, heißt es in einer Stellungnahme Meyer-Plaths vom Mai an Christian. Werde die Erkenntnislage auf nahe Null reduziert, verliere der sächsische Verfassungsschutz die Bewertungs- und Prognosefähigkeit zur AfD und wegen der Vernetzung auch im gesamten Bereich der „Neuen Rechten“. Einstufungen von Pegida oder der seit einer Woche vom Bundesverfassungsschutz beobachteten Gruppe „Ein Prozent“, die nationalistische und völkische Initiativen verbindet, seien nicht mehr zu bewerkstelligen. Das Landesamt würde in dem Bereich „nicht nur blind, sondern auch sprachlos“. Unter dem Eindruck  rechtsextremistischer Anschläge in Kassel, Halle und Hanau sei das untragbar.

Das große Löschen dürfte massive Kapazitäten in Anspruch nehmen. So müssten Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Gänze gelöscht oder aufwendig geschwärzt werden. Das betreffe  über 1.000 Seiten zum „Flügel“, sowie das 443 Seiten starke AfD-Gutachten. Für das Schwärzen von 1.020 betroffenen Dokumenten, so Meyer-Plath, wäre eine Arbeitszeit von 1.500 Stunden nötig. Das Material  kann in allen anderen Bundesländern weiter genutzt werden, nur in Sachsen nicht.

Konkret geht es im Streit mit dem Ministerium um mutmaßliche extremistische Aktivitäten von vier Abgeordneten des Sächsischen Landtags, eines EU-Parlamentariers sowie drei Bundestagsabgeordneten,  darunter AfD-Bundeschef Tino Chrupalla, deren Daten das Amt löschen soll. Im Unterschied zu Verfassungsschutzbehörden anderer Bundesländer darf in Sachsen wegen der Gesetzeslage die Öffentlichkeit nicht transparent über laufende Prüf- und Verdachtsfälle informiert werden.

2012 hatte Markus Ulbig (CDU), damals Innenminister, Gordian Meyer-Plath als Verfassungsschutz-Chef von Brandenburg nach Sachsen geholt. Der Vorgänger war zurückgetreten, weil in einem Safe Unterlagen  über den NSU gefunden wurden. Der Verfassungsschutz steckte damals in einer schweren Legitimationskrise. Ein Geisteswissenschaftler wie Meyer-Plath, der zuvor beim Verfassungsschutz Brandenburg war und sich nicht hinter Aktenbergen verstecken wollte, war aus Sicht der Regierung die ideale Besetzung. Dass er früher einen wegen versuchten Mordes vorbestraften Neonazi als V-Mann führte, schadete ihm in Sachsen nicht. Ein neuer Geist sollte in den Verfassungsschutz einziehen. Mehr Beratung für Kommunalpolitiker und Schulen, weniger Abschottung. Der Verfassungsschutzbericht wurde um Informationen auf Landkreisebene erweitert.

Der von vielen geforderte Mentalitätswechsel stieß bald an Grenzen. So schlug der Verfassungsschutz vor, Pegida nach eingehender Prüfung zum Beobachtungsfall zu erklären. Die Fachaufsicht im Innenministerium lehnte ab. Die Anhaltspunkte sollen Referatsleiter Dirk-Martin Christian entgegen der Einschätzung der Fachleute des Landesamtes nicht gereicht haben.

Dabei hatte es im Pegida-Umfeld schwere Straftaten gegeben. So zündete ein Demo-Redner in Dresden vor einer Moschee und am Kongresszentrum 2016 Sprengsätze. Auch die Terrorgruppe Freital und verschiedene Neonazi-Netzwerke haben sich im Umfeld von Pegida radikalisiert. Außerdem pflegen die Anführer um Lutz Bachmann enge Kontakte zur rechtsextremistischen Identitären Bewegung.

Auch in Sachen AfD beansprucht das Ministerium das letzte Wort – trotz gegenteiliger Einschätzung der Fachleute. Ausländer-, islam- und demokratiefeindliche Äußerungen begründeten keine Bestrebungen gegen die Verfassung, schrieb Referatsleiter Christian im Zuge der Auseinandersetzung um die Löschanweisung. Selbst völkisch-nationalistisch geprägte Argumentationsmuster fielen seiner Ansicht nach nur ins Gewicht, wenn belegbar sei, dass der Parlamentarismus des Grundgesetzes durch eine völkische Gesellschaftsordnung ersetzt werden solle. Meinungsäußerungen seien kein Beleg für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung, so Christian.

Auch die Mitgliedschaft im rechtsextremistischen „Flügel“ der AfD wie im Fall von Landeschef Jörg Urban rechtfertige allenfalls eine vorübergehende Beobachtung.

Verfassungsschutzchef Meyer-Plath widerspricht. Reden und die Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen seien eine Aktivität mit dem Ziel, Mehrheiten für Meinungen zu schaffen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eben nicht im Einklang stünden. Würden solche Beiträge zur Meinungsbildung nicht berücksichtigt, entfiele der Charakter des Landesamtes als Frühwarnsystem. Als solches scheint Referatsleiter Dirk-Martin Christian den Verfassungsschutz nicht zu betrachten. Als Chef des Landesamtes soll er nun eben jenes „Frühwarnsystem für eine wehrhafte Demokratie“ führen, das umfassende Lagebilder für sämtliche extremistische  Bedrohungen brauche.

AfD-Leute wie Tino Chrupalla spielen bewusst mit den Grenzen des Verfassungskorridors, wenn er mit Blick auf Demonstrationen gegen Rassismus in den USA behauptet, das würde zeigen, „in welcher Sackgasse multikulturelle Einwanderungsländer enden.“ Chrupalla löschte die Behauptung, mit der er die brutale Sklaverei und Migration nach Europa gleichsetzte.

Meyer-Plath schreibt an seinen künftigen Nachfolger, die Vermerke zu den AfD-Abgeordneten seien nach Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts im bundesweiten Verfassungsschutzverbund und nach einem vom Bundesinnenministerium geprüften Handlungsleitfaden erstellt worden. „Ein alleiniges Abweichen Sachsens von dieser Linie wäre mehr als erklärungsbedürftig.“ Sachsen wäre das erste und einzige Bundesland, dass mit den Datenlöschungen auch die Bearbeitung der als rechtsextremistische Verdachtsfälle eingestuften Organisationen „Flügel“ und „Junge Alternative“ einstellen müsste. Der Freistaat müsste auch jede Information, die aus dem Bundesamt oder anderen Länderbehörden kommt, sofort löschen. Meyer-Plath zufolge sind alle für die Extremismusaufklärung und -bewertung relevanten Akteure direkt oder indirekt dem Kreis der AfD-Abgeordneten zuzurechnen.

Brandenburg hat den gesamten AfD-Landesverband unter Beobachtung gestellt. Der rechtsextreme „Flügel“-Mann Andreas Kalbitz gibt dort den Ton an. Mittlerweile dominierten im Landesverband Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung und das Gedankengut des völkisch-nationalen „Flügels“, dessen Auflösung der Verfassungsschutz als „Scheinauflösung“ bezeichnet hat. Nach den Chemnitzer Ausschreitungen erklärte Thüringens Verfassungsschutz den Landesverband unter Björn Höcke zum Verdachtsfall.

Meyer-Plath war, das zeigt der Schriftwechsel, nicht bereit, die Lösch-Anweisung klaglos hinzunehmen. Die politische und mediale Reaktion auf den infolge des Abbruchs des Prüfverfahrens gegen einen vom Bundesamt für Verfassungsschutz als eindeutig vom „Flügel“ dominierten eingestuften AfD-Landesverband wäre verheerend. Fettgedruckt geht es weiter: „Es wird der Eindruck entstehen, dass das LfV Sachsen und damit auch das Sächsische Staatsministerium des Innern den Kampf des Freistaates gegen Rechtsextremismus – konkret die Auseinandersetzung mit der AfD – nicht, beziehungsweise nur sehr nachlässig wahrnimmt.“ Außerdem müssten das Bundesamt sowie das Bundesinnenministerium informiert werden, dass keine Dokumente mehr entgegengenommen und keine Dokumente mehr ungeschwärzt versandt werden könnten.

Innenminister Wöller ist seit Ende 2017 im Amt. Anfangs bemühte er sich aus Sorge vor drohenden Skandalen und Affären um einen größtmöglichen Abstand zu seinem Nachrichtendienst. Seinen ersten Verfassungsschutzbericht ließ er seinen damaligen Staatssekretär Günther Schneider vorstellen. Die Distanz zum Verfassungsschutz ist mit dem gestern verkündeten Wechsel an der Behördenspitze verschwunden. Für künftige Erfolge und Misserfolge haftet der Minister persönlich.