Sächsische Zeitung, Seite 3, 07.12.2020

Ärzte die quer denken

Auch in Sachsen gibt es Mediziner, die die Corona-Politik rundum ablehnen. Sie verweigern das Tragen von Masken und reden auf Demonstrationen. Warum nur?

Von Oliver Hach, Tobias Wolf und Ulrich Wolf

Die Frau, die sich an diesem Novemberabend auf dem Rathausplatz von Oelsnitz im Erzgebirge stellt, hat kein Mikrofon mitgebracht. „Kommt ein Stückchen ran“, ruft sie den Menschen zu. Etwa 200 bis 300 Leute rücken dicht zusammen. Fast niemand trägt eine Maske, die Polizei schaut zu.

Die Frau beginnt zu sprechen. Es ist Dr. med. Gerlind Läger, Fachärztin für Innere Medizin. Ihre Praxis liegt nur drei Gehminuten entfernt. „Viele kennen mich hier“, beginnt die Mittfünfzigerin ihre Rede. Schnell ist sie beim Thema. Das Infektionsschutzgesetz sei „ein Gesetz, das die Grundrechte aushebelt“ und Corona eine mittelschwere Grippe. „Wer kennt einen schwer Erkrankten?“, ruft sie. „Ich nicht“, antworten einige. „Wovor haben wir Angst?“, fragt sie. Und schiebt die Antwort gleich hinterher: „Die Angst wird von den Medien gemacht.“

Läger sieht sich im Widerstand gegen das System, gegen die etablierte Politik, gegen die führenden Virologen und Epidemiologen. Die Maske nennt sie einen „Maulkorb“. Bewusst zieht sie eine Parallele zu den Nazis: „Die Maske ist der Stern. Ich bin schon froh, dass er nicht gelb sein muss.“ Sie war auf den großen Querdenker-Demonstrationen in Leipzig und Berlin. In Oelsnitz sagt sie: „Das Robert-Koch-Institut hat bei mir jedes Vertrauen verspielt.“ Applaus. „Jawoll, bei uns auch“, schallt es zurück.

Fast 90 Prozent der Deutschen vertrauen nach einer Umfrage des Nürnberger Marktforschungsinstituts GFK der Berufsgruppe der Ärzte. Umso mehr Gewicht haben ihre Worte in der Pandemie. Allein in Sachsen arbeiten rund 15.000 Ärzte eigenständig oder in Kliniken. Sie alle tragen wesentlich zur Akzeptanz der Corona-Schutzmaßnahmen bei. Oder zu deren Ablehnung. Setzen sie in den Fluren und Wartezimmern ihrer Praxen die Maskenpflicht wirklich um? Handeln sie stets nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie es ihre Berufsordnung besagt? Oder widersetzen sie sich all dem, weil es Mainstream ist?

„Setzt eure Kinder um Himmels willen nicht mit diesem Lappen vorm Gesicht in die Schule“, fleht die Ärztin Läger. Direkt vor ihr steht eine Frau mit einem Kind im Grundschulalter, offenkundig deren Sohn. Die Mutter erregt sich: „Er wird angeschrien in der Schule, er soll die Maske aufsetzen.“ „Nein!“, antwortet Läger. Als der Junge bestätigt „Das mach‘ ich nicht“, echot sie: „Mach‘ ich nicht – richtig!“ Wieder klatschen die Demonstranten .

Die Maske ist längst zum Symbol geworden im diffusen Kampf zwischen Pro und Kontra beim Corona-Schutz. Die Initiatoren der Kampagne „Ärzte für Aufklärung“ etwa halten sie für überflüssig. Auf ihrer Homepage präsentieren sie rund 2.000 Unterschriften. Gut die Hälfte davon ist allerdings nicht aus der Gesundheitsbranche. Es stehen auch Immobilienmakler, Betriebswirte, Kfz-Mechaniker oder Lageristen auf der Liste. Dass einer der Initiatoren, ein Hamburger Internist, einer Rentnerin einst vor Gericht bescheinigte, eine Allergie gegen Schwarze zu haben, spielt für die Unterschreiber offenbar keine Rolle.

Darunter sind vier Ärzte, drei Heilpraktiker und zwei Apothekerinnen aus Dresden. Aus Leipzig sind Krankenschwestern, Logopäden, Heilpraktiker und Zahnärzte dabei. Auch zwei Görl itzer Hausärzte haben unterschrieben. Ihre Namen sind nicht identisch mit denen, die dort die Proteste gegen die Corona-Auflagen im Frühsommer organisiert hatten. Und auch der Chefarzt einer Görlitzer Klinik teilte seinerzeit von seiner Facebook-Seite aus auffällig viele Beiträge und Links, die die Corona-Gefahr relativierten. Erst vor ein paar Tagen verschickte er wieder eine Mail zu einem „hochinteressanten Beitrag“ aus dem Ärzteblatt. Es handelte sich um den Leserbrief eines Arztes aus Süddeutschland, der unter anderem schrieb: „Wir Ärzte sind verpflichtet, uns gegen unsinnige und schädliche Regierungsmaßnahmen zu wenden.“

Ein auch in Görlitz teils bejubelter Gast war zuletzt auch der bekannteste Querdenker unter den Medizinern: der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Bodo Schiffmann aus Sinsheim bei Heidelberg. Er vergleicht die Corona-Maßnahmen gern mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Zumindest bei Pegida in Dresden und in Brandenburg ist der Cottbuser Zahnarzt Christoph Brandt bekannt. Der 64 Jahre alte Katholik lehnt den Mund-Nasen-Schutz als „Symbol der Unterdrückung“ ab. Er gehört zu den Gründern des Vereins „Zukunft Heimat“, der für den Verfassungsschutz „erwiesen rechtsextremistisch“ ist. Seit Oktober sitzt Brandt als AfD-Fraktionschef im Landtag in Potsdam.

Das Feindbild Maske – wohl auch deshalb hat die Oelsnitzerin Gerlind Läger einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichnet. „Ärzte stehen auf“ lautet der Titel. Initiiert hat das Schreiben eine Assistenzärztin aus Weiden in der Oberpfalz, die dort im März 2020 als Kandidatin der Ökologisch-Demokratischen Partei Deutschlands für den Stadtrat antrat. Die rund 300 Unterzeichner fordern eine „sofortige Aufhebung aller Corona-Maßnahmen“. Diese begünstigten bei gesunden Menschen „eine Abnahme der natürlichen Widerstandsfähigkeit“. Die Corona-Sterberate gleiche „der einer mittelschweren saisonalen Grippe“. Man beobachte „mit Erstaunen und Entsetzen“, wie viele Millionen Euro Steuergeld „in ein Impfstoff-Projekt mit ungewissem Ausgang und recht kleiner Zielgruppe“ gesteckt werde.

Außer Läger, die wegen ihrer Maskenverweigerungshaltung inzwischen keinen Notdienst mehr ausüben darf im Rettungszweckverband Chemnitz-Erzgebirge, finden sich 20 weitere Namen aus Sachsen unter dem Brief. Etwa der eines Heilpraktikers aus Bautzen, der sich zur Schenker-Bewegung bekennt. Oder der eines Orthopädietechnikers aus Grimma, der Mitglied der Grünen ist. Oder der eines Zahnarztes aus Oelsnitz, der für die AfD im Stadtrat sitzt. Oder der einer Zahnärztin aus Pirna, die als Dozentin an der Dresdner Heilpraktikerschule tätig ist.

Die Allgemeinmedizinerin Annette Weiß aus Pöhl im Vogtland hat ebenfalls unterschrieben. Sie sagt, die derzeitigen Maßnahmen ließen sämtliche psychosozialen Faktoren außer Acht. Zudem sei unbestreitbar, „dass es einen zeitlichen Zusammenhang gibt zwischen der Einführung von 5G und dem Auftreten von Covid-19“. Ihre Kollegin Susanne Hein aus Neuensalz betont, man müsse das Virus als „allgemeines Lebensrisiko begreifen“. Der Zwickauer Gynäkologe Christoph Heinritz-Bechtel hat den Brief auf seine Praxis-Homepage gestellt. Warum? Weil die Maßnahmen der Politik zu „nicht absehbaren Schäden für die Gesundheit aller Bürger“ führten.

Eine Dresdner Ärztin möchte in der Zeitung nicht benannt werden, obwohl doch ihr Name und Wohnort samt Postleitzahl unter dem Brief im Internet zu lesen sind. Der Vorraum ihrer Praxis besteht aus einem Schreibtisch für die Sprechstundenhilfe und zwei Korbstühlen, zwischen denen ein kleiner Tisch eingeklemmt ist. Darauf liegen Flyer der Initiative „Eltern stehen auf“ und ein Buch mit dem Titel „Corona-Fehlalarm“. Handzettel werben für eine „Groß-Demonstration für Demokratie und Grundrechte“ in Dresden. In einem Selbstporträt gibt sie an, die „Arbeit mit dem Wesenskern“ des Menschen für sich entdeckt zu haben. Sie sagt, sie sei auf mehreren Querdenker-Demonstrationen gewesen. „Wenn man gegen die Maskenpflicht protestiert, dann trägt man die Maske nicht.“

Das Auslegen solcher Schriften sehen Fachleute kritisch, weil Ärzte damit ihre Vertrauensstellung bei Patienten benutzen könnten, um sie zu beeinflussen. „Ob solche Broschüren und Sachen im Wartezimmer noch zur Meinungsfreiheit gehören oder der Berufspflicht von Ärzten widersprechen, müsste dringend mal von Gerichten geklärt werden“, sagt ein Experte.

Die meisten der sächsischen Mediziner, die sich mit „Ärzte stehen auf“ identifizieren, antworten aber gar nicht erst auf die Frage nach dem Warum. „Dafür hat der Doktor jetzt keine Zeit“, sagt die Sprechstundenhilfe eines Hausarztes in Kreischa bei Pirna. Der erbetene Rückruf bleibt aus. Auf einem Schild in der Praxis steht: „Patienten mit Maskenbefreiung oder gesundheitlichen Problemen“ seien von der Pflicht ausgenommen. Von den vier Patienten im Wartezimmer trägt eine junge Frau keine Maske.

Die Landesärztekammer hat derzeit in Sachen Corona-Protest 40 bis 50 Fälle auf dem Schirm. „Die Schwerpunkte sind mutmaßliche Gefälligkeitsatteste und die Nichteinhaltung der Maskenpflicht in Arztpraxen“, sagt Sprecher Knut Köhler. Die Kriterien für Masken-Atteste seien sehr streng und müssten genau begründet werden. Aus Gefälligkeit dürften sie nicht ausgestellt werden. Wenn das nachweisbar sei, könne die Kammer ein Bußgeld verhängen oder eine Rüge aussprechen.

Die Hinweise auf die Verstöße durch Ärzte kämen von Patienten, Bürgern, anderen Medizinern sowie Behörden wie Gesundheits- und Landratsämtern. Derlei Hinweise kommen inzwischen flächendeckend aus dem ganzen Freistaat. Ostsachsen sticht demnach besonders hervor mit den Regionen um Görlitz, Bautzen und Zittau sowie den Landkreisen Meißen und Sächsische Schweiz/Osterzgebirge. In Westsachsen betrifft das vor allem Chemnitz und Zwickau.

Bianca Witzschel hat man vor einigen Jahren sogar die Approbation entzogen. Sie soll sie inzwischen wieder erlangt haben. Die einstige Fachärztin für Allgemeinmedizin in Moritzburg sieht sich auch als jemand, der aufsteht. 2014 stand sie wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz vor Gericht. Sie hatte elf Waffen und mehrere Hundert Schuss Munition gehortet – und ihren Personalausweis abgegeben, weil sie die Bundesrepublik nicht anerkennt. Eine Reichsbürgerin. Eine Klientel, die, so der sächsische Verfassungsschutz, „explizit die Nähe zu den Organisatoren von Querdenker-Initiativen sucht“.

Wie auf dem Marktplatz in Oelsnitz. Eine Frau drückt der Ärztin Gerlind Läger ein Flugblatt der Reichsbürgervereinigung „Königlich Sächsischer Gemeindeverbund“ in die Hand. Die Frau erzählt, die Behörden hätten einer Freundin die dreijährige Tochter weggenommen, als sie Schnupfen bekam. Begründung: Ihre Wohnung sei für die Quarantäne zu klein. Fast vier Monate sei das her, behauptet die Frau. Ihre Freundin wisse bis heute nicht, wo ihre Tochter sei. „Ich glaube das zu 100 Prozent“, sagt Läger. Tatsächlich? Reflektiert Läger ihr Handeln? Ist es ihr egal, dass sie im Südwesten Sachsens regelmäßig auf Kundgebungen spricht, die ein regional bekannter Rechtsextremist organisiert? Offensichtlich nicht. Wichtiger ist ihr das Aufbegehren gegen die Gesundheitsämter, die „sinnlose Tests“ veranlassten. Und gegen die Labore, die damit „einen goldenen Löffel“ verdienten.

Einer dieser vermeintlichen Profiteure ist ein Facharzt für Laboratoriumsmedizin in Plauen. Auch sein Name findet sich unter dem Brief von „Ärzte stehen auf“. Er ist als Standortleiter für eines der größten Laborunternehmen Deutschlands tätig, das vor allem im Südwesten Sachsens täglich bis zu 6.000 Coronatests auswertet. Der Mediziner will namentlich nicht zitiert werden. Am Telefon erklärt er, er sei politisch nicht aktiv, sorge sich aber darum, wie wegen Corona angeblich leichtfertig Grundrechte eingeschränkt werden. Man habe vergessen, dass alte Menschen auch an anderen Viruserkrankungen sterben. Außer dem Laborarzt stehen 83 Allgemeinmediziner, 53 Zahnärzte, 27 Psychologen, Psychiater oder psychosomatische Ärzte, 24 Internisten, 14 Gynäkologen, neun Anästhesisten, fünf Augenärzte und zwei Sozialmediziner auf der bundesweiten Liste. Die restlichen fast 100 Unterschriften kommen aus Homöopathie und Naturheilkunde.

Die deutsche Klinikrealität scheinen sie auszublenden. „Wir sind in einer absoluten Ausnahmesituation, die wir in der Geschichte der Intensivmedizin so noch nie erlebt haben“, sagt Gernot Marx von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Aus seiner Sicht hätte der Lockdown schärfer ausfallen müssen. Das Städtische Klinikum Dresden kann bereits keine Covid-19-Patienten mehr aufnehmen, auch die Oberlausitz-Kliniken haben Alarm geschlagen.

Nach einer Dreiviertelstunde hat Gerlind Läger ihre Rede in Oelsnitz beendet. Ein Mann, der die Auftritte der Ärztin regelmäßig im Internet ankündigt, macht noch eine Durchsage. „Die nehmen uns Ostern, die nehmen uns Weihnachten, die wollen uns Silvester nehmen, die nehmen uns alles“, brüllt er. Und dann dreimal im Wechsel mit der Menge: „Muss das sein?“ „Nein!“