Sächsische Zeitung, Seite 3, 16.02.2021

„Die haben alle geschwiegen“

Vor 50 Jahren starb Herbert Jungnitsch. Der katholische Priester missbrauchte in Heidenau mindestens vier Kinder. Aufgearbeitet hat die Kirche den Fall bis heute nicht.

Von Tobias Wolf und Ulrich Wolf

Das Grab auf dem Heidenauer Südfriedhof wird immer noch gepflegt. Es ist bepflanzt mit einem kleinen Wacholderstrauch, mit zwei Eriken und einer Christrose. Einige Tannenzweige bedecken die Erde.

Der nicht einmal drei Quadratmeter große Flecken ist die letzte Ruhestätte von Herbert Jungnitsch. 1898 in Breslau geboren, 1922 zum Priester geweiht, 1971 in Heidenau gestorben. „Ich lebe und ihr sollt auch leben“, steht auf seinem Grabstein aus Granit. Ein Satz aus den Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium. Ein Satz, der Hoffnung geben soll in misslichen Lebenslagen.

Gerda Lemmer* kann dem nichts abgewinnen. Ausgerechnet Jungnitsch nahm ihr die Hoffnung auf ein unbeschwertes Leben. Der Ex-Pfarrer der Heidenauer St.-Georg-Gemeinde hat sie missbraucht. „Da gab’s die Frohe Herrgottsstunde für Kinder, die noch nicht in die Schule gingen“, sagt sie. „Ich war drei oder vier Jahre alt.“ Sie erinnert sich an ein Dachzimmer mit einem schrägen Fenster. Da habe sie zugucken müssen, wie der Pfarrer zwei Jugendliche zwang, Sex zu haben. Sie selbst habe ihren Schlüpfer ausziehen und das Röckchen hochheben müssen. „Dabei hat der mit der Statuette der Jungfrau Maria gefuchtelt und gebetet und uns beschimpft: Ihr Verruchten.“

Sexualisierte und körperliche Gewalt bis hin zu schwerem Missbrauch an mindestens vier Kindern seien „glaubhaft bekannt“, urteilt der Seelsorgerat in Heidenau. Man habe deshalb im Januar 2019 sowie im Juli 2020 „die Einebnung der Grabstelle von Pfarrer Jungnitsch“ beschlossen. Dass das bislang noch nicht geschehen ist, begründen Gemeinde und das Bistum Dresden-Meißen mit Corona.

Die weiterhin geplante Einebnung wäre wohl ein Novum. Bei der Deutschen Bischofskonferenz ist so ein Vorgang nicht bekannt, ebenso wenig bei den deutschen Bistümern.

Im dunkelsten Kapitel des Lebens von Gerda Lemmer spielten außer der Wohnung des Pfarrers mit den schweren dunklen Möbeln noch andere Tatorte eine Rolle. Zum Beispiel die Sakristei, sagt die heute 60-Jährige. Dort hätten sie und andere Mädchen Jungnitsch manchmal aus der Soutane helfen müssen. „Er hat sich dabei an einem Tischbein gerieben.“ Sie erinnert sich an die Empore, an einen dunklen Gang an der Orgel, wo ein anderer Mann mit Baskenmütze sie anstarrte. Fast immer sei jemand anderes dabei gewesen.

Das deckt sich mit Schilderungen weiterer Betroffener. Wohl mindestens sechs Männer zwischen 20 und 70, alle aus der Gemeinde und teils im Kirchendienst, sollen mitgemacht haben. „Heute würde man das wahrscheinlich als Kinderschänder-Ring bezeichnen.“

Auch Elisabeth Müller* wurde in den 1960er-Jahren als Kind missbraucht, unter anderem „in so einer Art Laube in einer Gartensparte in Graupa“. Sie erzählt von einer Person, die die Untaten fotografiert habe. Sakrale Gegenstände seien zur Penetration benutzt worden. Ein Mädchen sei im Intimbereich so schwer verletzt worden, dass es ins Heidenauer Krankenhaus musste. Dem Gynäkologen dort sei gesagt worden, das Kind habe Spagat gemacht und dabei sei etwas gerissen. Es gibt Hinweise, dass der Arzt zumindest geahnt haben soll, was in der Gemeinde vor sich ging. „Die haben alle geschwiegen“, sagt Müller.

Die familiären Wurzeln der meisten Katholiken in Heidenau liegen in Schlesien. Für einige Ältere unter ihnen ist Jungnitsch kein Sexual-, sondern eher ein Wohltäter. Nach dem Krieg half er den Vertriebenen, ihre Not zu lindern. Er knüpfte Kontakte bis in den Westen, besorgte Lebensmittel und Kleidung oder auch Lehrstellen. „Für alle, deren Väter im Krieg geblieben waren, hatte der eine Rolle wie St. Martin“, sagt Müller. Über den Missbrauch konnten sie und die anderen betroffenen Mädchen nicht reden. „Solche traumatischen Erfahrungen verdrängen Kinder zum Schutz tief ins Unterbewusstsein“, sagt ein mit dem Fall befasster Therapeut. „Oft bricht das erst Jahre oder Jahrzehnte später hervor.“

Die Katholiken aus Schlesien sind nicht nur mit Heidenau, sondern generell eng verknüpft mit der Nachkriegsgeschichte des heutigen Bistums Dresden-Meißen. Prägende Persönlichkeiten stammten von dort. Zum Beispiel der 2017 gestorbene Joachim Meisner; er hatte 1987 als Kardinal von Berlin das einzige DDR-weite Katholikentreffen in Dresden organisiert. Die Familie von Ex-Bischof Joachim Reinelt, der dem Bistum von 1988 bis 2012 vorstand, kam ebenfalls aus Schlesien.

Und auch sein Vorgänger Gerhard Schaffran. Der 1996 in Dresden verstorbene Kleriker war nach dem Tod seines Vaters im Ersten Weltkrieg mit seiner Mutter nach Görlitz gezogen, wo er das Abitur machte. Dort prägte ihn von 1926 bis 1929 ein Kaplan namens Herbert Jungnitsch. Später ging Schaffran zum Theologiestudium nach Breslau, wo er Jungnitsch erneut begegnete. Jahrzehnte später, als Heidenauer Pfarrer, freute der sich, dass „einer von seinen Jungs“ Bischof geworden war.

Wusste Schaffran von den Verbrechen, die Jungnitsch in Heidenau begangen hat?

Das Bistum sagt nein. „Aus den uns vorliegenden Akten ergeben sich keinerlei entsprechende Hinweise“, teilt die Pressestelle mit. Erst im März 2010 sei der damalige Bischof Reinelt über das Ergebnis einer Recherche zu Jungnitsch informiert worden. Internem Schriftverkehr zufolge, der der Sächsischen Zeitung vorliegt, hatte ein ehemaliger Ordinariatsrat „auftragsgemäß“ Heidenaus damaligen Pfarrer vertraulich gefragt, ob ihm etwas über „Gerüchte oder Ähnliches“ in Sachen Jungnitsch bekannt sei. Ohne Ergebnis.

Im Frühsommer jenes Jahres treten dann zwei betroffene Frauen der Heidenauer Fälle direkt an den Bischof heran. Der zeigt sich über ihre Vorwürfe erschüttert. „Er sagte, er habe eine andere Frau, die deutlich vor uns zu ihm gekommen sei, nicht ernst genommen und für verwirrt gehalten“, sagt eine Gesprächsteilnehmerin.

Im Juli 2010 räumt das Bistum gleich mehrere Missbrauchsfälle ein, darunter auch, „dass ein 1971 verstorbener Pfarrer offensichtlich verbrecherische Handlungen an Mädchen begangen und ihnen damit schweren seelischen Schaden zugefügt hat“. Von Verwicklungen weiterer Männer aus dem Kirchendienst in diesen Fall ist dem Bistum nach Angaben ihres Sprechers bis heute nichts bekannt.

2010 und 2011 gibt es zwar Gespräche mit Betroffenen, Zahlungen „in Anerkennung des Leids“ und Geld für Therapien – aber keine kircheninterne Aufarbeitung. Erst im Januar 2012 notiert der damalige Justiziar, das Thema Jungnitsch sei in Heidenau „ambivalent“. Viele wüssten oder ahnten, worum es gehe, hielten das aber zurück, „um es eventuell auszusitzen“. Eine der betroffenen Frauen habe vorgeschlagen, das Bistum möge die Pfarrei zu einem „Selbstreinigungsprozess“ auffordern und eine innerkirchliche Untersuchungskommission einberufen.

Keine dieser Ideen wird umgesetzt. Zwar schreibt im März 2012 besagter Justiziar an die Betroffene, er bereite in Abstimmung mit der Pressestelle eine Information an die Öffentlichkeit vor, der Entwurf würde vor der Veröffentlichung aber noch einmal Bischof Reinelt und dem amtierenden Diözesanverwalter vorgelegt. Die Pressemeldung erscheint nicht. Der Grund dafür bleibt offen. Es sei „möglicherweise davon auszugehen, dass es sich um eine Vorbereitung für Presseanfragen gehandelt hat“, teilt der Bistumssprecher mit.

Obwohl der Casus Jungnitsch bistumsintern bis heute als gravierendste Tat seit 1945 gilt, werden in der ersten offiziellen Zusammenfassung zu dem Thema im Juni 2013 weder Heidenau noch der Name des Pfarrers erwähnt. Inzwischen amtiert Heiner Koch als Bischof. Er verkündet im Herbst 2014 gar: „Die aktuelle Situation haben wir weitgehend aufgearbeitet.“

Über das Thema Jungnitsch fällt auch kein Wort, als Anfang September 2018 die Gründung der neuen Großpfarrei St. Heinrich und Kunigunde in Pirna gefeiert wird, zu der fortan auch St. Georg in Heidenau gehören sollte. „Einen geistlichen Prozess kann niemand verordnen; jede und jeder Getaufte aber ist gerufen, sein Leben neu auf Jesus Christus zu gründen“, predigt der seit 2016 agierende Bischof Heinrich Timmerevers.

Der „geistliche Prozess“ der Jungnitsch-Aufarbeitung hingegen stockt. Pirnas Pfarrer Vinzenz Brendler beteuert, er habe nichts darüber gewusst, als er die Heidenauer Gemeinde mit übernahm. „Das Bistum hatte mich nicht informiert. Es hat mich dann auch überrascht, als das Thema so schnell aufkam.“

In jenem Herbst wird die nach den Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen benannte MHG-Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands veröffentlicht. Die Forscher hatten fast 3.700 Missbrauchsopfer ausfindig gemacht. Hinzu kamen gut 1.400 Betroffene, die sich bei Ordensgemeinschaften gemeldet hatten. Bischof Timmerevers sagt, sein Bistum sei „einer konsequenten Aufklärung verpflichtet“.

Derweil haben die Jungnitsch-Opfer in all den Jahren an der Bewältigung des Erlebten arbeiten müssen. „Das ganze Leben ist durchtränkt davon“, sagt eine von ihnen. „Ich habe als Kind große Sprachschwierigkeiten gehabt.“ Gefühlsmäßig sei sie lange Zeit wie „vereist“ gewesen. Seit 20 Jahren kämpfe sie psychotherapeutisch gegen Versagensängste. „Das setzt mich enorm unter Druck.“

Nach der Veröffentlichung der MHG-Studie entscheidet das Dresdner Bistum, alle einschlägigen Akten der Staatsanwaltschaft zur Verfügung zu stellen. In der im November 2019 von der Deutschen Bischofskonferenz beschlossenen Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Kleriker ist ein bischöflicher Beraterstab vorgeschrieben, dem auch Betroffene angehören sollen. Im Bistum Dresden-Meißen ist das bislang nicht der Fall.

Der Pressestelle zufolge ist bisher gegen 21 Beschuldigte ermittelt worden. Sechs davon seien verstorben. Drei seien laisiert, vier kirchenrechtlich verurteilt worden. Es habe drei Freisprüche gegeben und drei Einstellungen. Zwei Verfahren richteten sich gegen unbekannt. Weiter heißt es, es würden derzeit „drei neu aufgetauchte, länger zurückliegende Fälle sexuellen Missbrauchs untersucht, wobei es sich bei den Beschuldigten nicht um Priester handelt“. Insgesamt gebe es mittlerweile 14 männliche und 16 weibliche Betroffene. Sie seien mit bisher 114.500 Euro unterstützt worden.

„Sehr unzufrieden“ sei das Bistum mit der Umsetzung der Präventions- und Schutzkonzepte in seinen 37 Pfarreien, heißt es. Das läge erst in 19 Großgemeinden vor. Bis Ende Mai sollen nun alle Pfarreien „zumindest ein Basiskonzept“ entwickelt haben. Aktuell werde geprüft, ob bei Nichterfüllung eine Kürzung des Pfarreizuschusses rechtlich möglich sei.

Das Ordinariat räumt jedoch auch selbst ein, das Verständnis für die Notwendigkeit von Aufarbeitung sei in der Vergangenheit „zu wenig ausgeprägt“ gewesen. In vielen Fällen habe „Unsicherheit im Umgang mit dem Thema“ den Prozess verzögert.

Die Gemeinde in Heidenau erfährt vom Bistum im Juli 2020 zum ersten Mal offiziell, wer der Priestertäter ist. „Das hätte ich mir 2011 gewünscht, als die Jungnitsch-Geschichte mit Wucht über mich hereinbrach“, sagt eine Betroffene. Das Geld sei überwiesen worden „und dann war Ruhe“. Ihr und ihrer Familie wäre „einiges an Leid erspart geblieben, wenn die Bistumsverantwortlichen schon vor zehn Jahren Mut und Wahrheitswillen gehabt hätten“.

Im Frühsommer wird ein neuer Anlauf zur Aufarbeitung der Heidenauer Gemeindehistorie unternommen. Dann soll ganz offen über Jungnitsch gesprochen werden. „Bei der Abendveranstaltung sollen die Fakten klar benannt werden, ergänzt durch Blickwinkel aus der Psychologie und weiteren Disziplinen“, sagt der mit dem Projekt betraute Gemeindereferent. Er sei gespannt auf die Resonanz.

Die war bei der Beerdigung von Jungnitsch im Februar 1971 beachtlich gewesen. Der Pfarrer war zehn Tage vor seinem 73. Geburtstag auf dem Weg zu einem Briefkasten von einem Fahrzeug erfasst worden. Ob es ein Motorrad oder ein Auto war, darüber hat die Polizeidirektion Dresden keine Akten mehr. Im Krankenhaus erlag er seinen Verletzungen.

Hunderte gaben ihm das letzte Geleit, darunter auch der mit Jungnitsch befreundete Bischof Schaffran. „60 Mitbrüder und vier Geistliche evangelischer Gemeinden, Kinder, Jugend und ein Großteil seiner Gemeinde zogen am offenen Sarg ihres Pfarrers in stillem, betendem und dankbarem Gedenken vorbei“, berichtete seinerzeit die katholische Wochenzeitung Tag des Herrn. Und weiter: „Ganz erfüllt von der Gnade seiner eigenen Berufung zum Priestertum, war es sein Bestreben, die Liebe zum Priestertum jungen Menschen weiterzugeben.“

*Namen geändert