Sächsische Zeitung, Seite 3, 23.09.2021

„Extremes Störfeuer“

Gebrüll, Getröte, Hass-Chöre: Im Bundestagswahlkampf wütet eine Gruppe namens „Freie Sachsen“ gezielt bei Veranstaltungen und schüchtert Politiker ein.

Von Tobias Wolf und Ulrich Wolf

Der Lärm ist ohrenbetäubend, als Christdemokrat Friedrich Merz am Dienstagabend vor der Görlitzer Landskron-Brauerei ankommt. Tröten, ein Signalhorn und „Haut ab“-Rufe dröhnen durch die Einfahrt. Kurz zuvor ist sein Parteifreund, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, vorgefahren. Auch er wird lautstark empfangen, von rund 50 Menschen, die lärmen wie 500. So beginnt der letzte, prominent besetzte

Wahlkampftermin für den CDU-Bundestagskandidaten Florian Oest. Er, der im Wahlkreis 157 unter anderem gegen AfD-Chef Tino Chrupalla antritt, und Kretschmer sind Gebrüll gewöhnt. Beim Grilltermin der beiden vor zwei Wochen in Großschönau am Zittauer Gebirge waren die Pöbler ebenfalls präsent. Wo immer ein Spitzenpolitiker im Wahlkampf in Sachsen auftritt, um die örtlichen Bundestagskandidaten von CDU, SPD, Grünen oder Linken zu unterstützen, muss er mit dieser kleinen lauten Truppe rechnen.

Hinter den Störern stecken die „Freien Sachsen“. Das ist eine Partei, die der Verfassungsschutz seit Juni als rechtsextremistisch einstuft. Seit ihrer Gründung im Februar 2021 vereint sie namhafte Neonazis und selbsternannte Bürgerliche unter grün-weißer Freistaatssymbolik. Auf ihrer Internetseite, bei Facebook und dem Messengerdienst Telegram verbreiten sie die Termine anderer Parteien und rufen Mitglieder wie Sympathisanten dazu auf, sie sollten bei den Veranstaltungen „vorbeischauen und natürlich auch ihre Meinung sagen!“.

Kurz bevor Kretschmer Anfang September das erzgebirgische Olbernhau besuchte, schrieben die Extremisten: „Über eine Begrüßung und viele Gespräche mit erzgebirgischen Bürgern freut sich der geschätzte Ministerpräsident – wie immer – sicherlich sehr!“ Es wurde laut.

Auch in Freiberg war das nicht anders. Ebenfalls Anfang September hatten sich dort auf dem Schlossplatz acht Personen versammelt, in Sichtweite von Sachsens grünem Umweltminister Wolfram Günther und der Freiberger Direktkandidatin Lea Fränzle.

Unter den Protestlern, die dem Aufruf der „Freien Sachsen“ nach Freiberg gefolgt sind, ist eine altmodisch gekleidete junge Frau. Ein gebräunter junger Mann in kurzen Jeanshosen und kanariengelbem T-Shirt hat zunächst Schwierigkeiten, das Megafon einzuschalten. Dann beginnt er, auf Hochdeutsch „Volksverräter“ zu brüllen. Einer seiner Begleiter johlt. Eine Sirene heult, Buh-Rufe. Das Häuflein legt sich ins Zeug.

Ein Video des Auftritts landet später im Telegram-Kanal der „Freien Sachsen“. Dort heißt es, in Freiberg habe sich „spontaner Gegenprotest“ formiert, „der den Grünen deutlich macht, dass sie in Mittelsachsen keine Bürger für ihre Ideologie verführen werden!“. Spontaner Gegenprotest, bürgerlich, zufällig. Mit solchen Beschreibungen versuchen die Rechtsextremisten, die Störauftritte zu verkaufen, obwohl sie selbst über ihre Netzwerke entweder Gesinnungsgenossen oder sympathisierende Einheimische gezielt dafür agitieren.

Erstmals erwähnt der Verfassungsschutz die „Freien Sachsen“ im April 2021. Von einer „neu gegründeten nichtextremistischen Partei“ ist da noch die Rede. Diese sei bei einer von völkischen Siedlern organisierten Demo in Leisnig in Erscheinung getreten. Im Juni erfolgte dann die Einstufung als „rechtsextremistische Bestrebung“.

Der Nachrichtendienst geht davon aus, dass die Partei der „Freien Sachsen“ Demonstrationen gegen die Corona-Politik weiterhin „als Plattform für die bestmögliche gesellschaftliche Einsickerung ihrer verfassungsfeindlichen, rechtsextremistischen Ziele ausnutzen wird“.

Bei den „Freien Sachsen“ gibt es Überschneidungen mit der rechtsextremistischen Initiative Einprozent, mit der NPD und anderen Neonazi-Gruppen. Parteivorsitzender ist der Rechtsanwalt Martin Kohlmann (44). Er war vergangenes Jahr wegen Holocaust-Leugnung verurteilt worden.

Nach dem gewaltsamen Tod des Chemnitzers Daniel H. im Spätsommer 2018 war Kohlmann als Chef der ebenfalls rechtsextremistischen Vereinigung Pro Chemnitz die maßgebliche Organisationsfigur der gemeinsamen Aufmärsche von Neonazis und „besorgten Bürgern“. Kohlmann hatte sich dem Verfassungsschutz zufolge als Redner stereotyper fremdenfeindlicher Argumentationsmuster und rechtsextremistischer Propagandavokabeln bedient, „die einen Gewalt legitimierenden Charakter aufwiesen“.

Kohlmann umgibt sich auch beruflich mit Extremisten, etwa mit dem31-jährigen Michael Brück. Der stammt aus Bergisch-Gladbach und gehörte zu den Führungsfiguren der Neonazi-Organisation Nationaler Widerstand Dortmund. Nach deren Verbot gründete Brück gemeinsam mit anderen die Kleinpartei Die Rechte, für die er von 2015 bis 2020 im Stadtrat der westfälischen Großstadt saß. Dann zog er nach Chemnitz, angeblich, um in der Anwaltskanzlei von Kohlmann als Azubi anzufangen.

Auf seinem seit Ende 2020 nicht mehr genutzten Telegram-Kanal tat Brück kund, in Sachsen seien die Menschen empfänglicher für rechte Positionen. Es würde sich daher viel mehr anbieten, „in der Fläche anzugreifen“. Dem Verfassungsschutz zufolge war es „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ Brück, der bei einer von Linken organisierten Demonstration Ende Juli in Zwönitz Einträge zum „Versammlungsgeschehen auf dem regionalen Telegram-Kanal Freie Erzgebirger der Partei ‚Freie Sachsen‘“ in einem Live-Ticker veröffentlichte.

Erster Stellvertreter Kohlmanns bei den „Freien Sachsen“ ist Stefan Hartung, Neonazi und NPD-Funktionär aus dem Erzgebirge. Zweiter Stellvertreter ist Thomas Kaden, ein Busunternehmer aus Plauen, der mit der rechtsextremistischen Partei III. Weg kooperiert und sein Geld unter anderem damit verdient, Corona-Leugner zu Demonstrationen quer durch die Republik zu kutschieren. Schatzmeister Robert Andres wird vom Verfassungsschutz ebenfalls als Neonazi eingestuft.

Dresden, Montag vergangener Woche. Bei der inzwischen ebenfalls als rechtsextrem bewerteten Pegida-Bewegung wird Björn Höcke erwartet. Lange bevor der AfD-Frontmann eintrifft, haben die „Freien Sachsen“ einen Infostand aufgebaut. Kohlmann sagt, sie seien hier, um Pegida zu unterstützen.

Ein gutes Dutzend Rentner umlagert den Stand. Unten hängt ein Transparent „Säxit! Raus aus der Coronadiktatur“. Schatzmeister Andres läuft auf und ab, spricht in ein übersteuertes Mikro gegen den Lärm der rund 1.500 Gegendemonstranten an. Die würden „von dem ARD bezahlt“, seien „aus Steuergeldern bezahlte Antifa“. Kohlmann, schwarzes Hemd, hellbraune Jacke, raucht Zigaretten. Pegida-Anwalt Jens Lorek ist einer seiner Gesprächspartner.

Die etwa 2.000 Pegida-Anhänger, die wenig später Höcke huldigen werden, sind auch Kohlmanns Zielpublikum. Wie Pegida werben auch die „Freien Sachsen“ um Spenden. Ihr Konto wird bei der Sparkasse Chemnitz geführt. Das Geldhaus wehrt sich gerichtlich dagegen. Sprecher Sven Mücklich sagt, das Konto sei im Frühjahr 2021 beantragt worden. Das habe die Sparkasse abgelehnt, sei dann aber vom

Verwaltungsgericht Chemnitz zu einer vorläufigen Eröffnung verpflichtet worden. Die erste Gerichtsverhandlung werde in den kommenden Wochen erwartet.

„Wir werden uns abermit allen Kräften wehren“, sagt Mücklich. Nach Auffassung der Sparkasse missachten die „Freien Sachsen“ mindestens sechs Artikel des Grundgesetzes. So wolle die Partei laut ihrem Programm Menschen, die außerhalb von Sachsen geboren sind, wieder „geregelt in ihre Heimatländer zurückführen“, darunter „Verwaltungsleute, Richter und Journalisten aus dem Westen“.

Mit Wutprotesten und ihrer Programmatik wollen die „Freien Sachsen“ offenbar nicht nur Spenden sammeln, sondern auch Gewinne machen. Über den sogenannten Sachsenversand auf der Internetseite der Partei werden Devotionalien mit sächsischen Wappen und dem Schriftzug der „Freien Sachsen“ verkauft. Wie einst die NSDAP und später die NPD versuchen die „Freien Sachsen“, auch den erzgebirgischen Volksdichter Anton Günther zu vereinnahmen.

Sie drucken dessen Konterfei auf Tassen und verkaufen das Stück für 8,95 Euro. Dazu gibt es Aufkleber mit der Aufschrift „Deitsch on frei wolln mer sei!“. Das ist ein Lied, das Günther 1908 schrieb vor

dem Hintergrund ethnischer Spannungen in Böhmen. Dass sich Günther von den Nationalsozialisten nicht vereinnahmen ließ, sondern 1937 Suizid beging, ficht die „Freien Sachsen“ nicht an. Bei nahezu jedem Störauftritt finden sich die Werbematerialien des Versandshops. Dessen Betreiber ist Schatzmeister Andres, Sitz die Adresse von Kohlmanns Kanzlei.

Über den Shop werden auch Prospekte vertrieben. Dabei machen die „Freien Sachsen“ auch vor Minderjährigen nicht halt. Etwa mit einer Propaganda-Broschüre, die Schülerinnen und Schüler beim Thema Corona-Impfung verunsichern soll.

Eine SZ-Anfrage zu den Störaktionen veröffentlicht Kohlmann samt Antworten bei Facebook und Telegram. Für ihn sind die Brüll- und Pfeifaktionen keine Störungen, sondern ein Versuch, „das kritische Gespräch“ zu suchen. Obwohl die „Freien Sachsen“ sich selbst als Partei bezeichnen, sieht Kohlmann sie „eher als Sammlungs- und Vernetzungsbewegung“. Die angefragte Mitgliederzahl sei deshalb für ihn weniger wichtig. Ausgeschlossen aus der Partei werde lediglich, wer distanziere und spalte.

„Das ist eine alte Krankheit des patriotischen Bürgerwiderstandes, zu deren Überwindung wir beitragen möchten.“ Auch die genaue Zahl der Kreis- und Ortsverbände gibt Kohlmann nicht an. Mit Ausnahme des

Ostens sei man „im übrigen Sachsen flächendeckend“ organisiert, teilt er mit.

Das Stören von Veranstaltungen war bereits 2017 bei den Bundestagswahlen aufgefallen; damals rekrutierten sich die lauten Querulanten aus AfD-und Pegida-Reihen. Eine immer fast gleiche Gruppe tauchte an immer wieder anderen Orten in Sachsen und angrenzenden Bundesländern auf, um bei prominenten Politikern wie Kanzlerin Angela Merkel oder Außenminister Heiko Maas den Eindruck zu erwecken, es handele sich um unzufriedene Bürger aus der Region. Zudem sollten lokale Proteste

größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren, verstärkt durch Echokammern sozialer Netzwerke. Kaum ein Wahlkampfauftritt blieb ohne Volksverräter-Rufe.

Die Corona-Pandemie hat Rechtsextremisten wie Kohlmann oder längst abgeschriebenen NPD-Kadern und Neonazis neuen Auftrieb verschafft. Ihre konzertierten Störaktionen schüchtern inzwischen Wahlhelfer und Kandidaten ein, es sei denn, diese sind im Auftrag der AfD unterwegs.

Auf die Frage, warum er seine Wahlkampftermine im Internet sehr spät oder sogar gar nicht mehr veröffentlicht, antwortet ein in Sachsen bekannter CDU-Politiker: „Das hat mit den ‚Freien Sachsen‘ zu tun. Die versuchen, jeden Wahltermin zu stören.“ Er sei jetzt drei Jahrzehnte in der Politik aktiv, aber einen solchen Hass und eine solche Lust, politische Gegner verächtlich zu machen und zu diffamieren, habe er noch nicht erlebt.

Das Umfeld des Görlitzer CDU-Kandidaten Oest hingegen versucht, die Dinge etwas freundlicher zu sehen, als sie sind. Das Stören der „Freien Sachsen“ bei der Grillaktion in Großschönau mit Kretschmer kommentiert ein Lokalpolitiker so: „Das war alles nicht so schlimm, nur ein paar, die ihre Meinung sagen wollten.“

Klartext redet Sebastian Fischer, CDU-Direktkandidat im Wahlkreis Meißen. Ausgerechnet er, der sich jahrelang mühte, Menschen vom politisch rechten Rand zuzuhören, wird immer wieder Ziel von Pöbeleien, zuletzt am Sonntag in Coswig. „Achtung: Kretschmer ist heute in Sörnewitz (Coswig) und will mit ALLEN Bürgern sprechen!“, schrieben die „Freien Sachsen“ auf Telegram. „Auch wenn es kurzfristig ist: So eine gute Gelegenheit sollte man sich nicht entgehen lassen!“ Die Störer versammelten sich in einem Biergarten, Kinder inklusive.

Sie brüllten in die Reden hinein, klatschten provozierend oder animierten den Nachwuchs, besonders laut zu tröten. Irgendwann hätten sie zwar ein paar Fragen gestellt, sich aber nicht für Antworten interessiert, erzählt Fischer. „Der Tiefpunkt war erreicht, als eine Frau aus unserem Stadtverband in Coswig als CDU-Fotze betitelt wurde.“ Normaler Dialog sei mit diesen Personen nicht mehr möglich, Anstand sei nicht zu erwarten.

„Dieses Verhalten ekelt mich an.“ Er wolle nicht, dass Hass, Lüge und primitive Hetze das Bild von Sachsen bestimmen. An manche Menschen komme er nicht mehr heran, „an andere muss ich ran, aber man muss an Selbstschutz denken“. Der Schritt von der verbalen hin zur körperlichen Gewalt sei nur noch ein kleiner. „Irgendwann greift einer von denen zur Spitzhacke oder zum Messer“, sagt Fischer. „Hier könnte eine rechte RAF entstehen.“

Als der verhinderte CDU-Kanzlerkandidat Merz in der Brauerei in Görlitz spricht, ist die Dauerlärmkulisse mit Pfeifen und Gebrüll drinnen zu hören. Als der Politiker das Gelände verlässt, brüllen sie ihm „Haut ab, haut ab“ hinterher. Als keiner mehr nachkommt, sind die Protestler kurz irritiert. Es wird für einen Moment still, der Gegner fehlt. Dann besinnt sich einer auf einen anderen Schlachtruf, die anderen brüllen mit: „Lügenpresse, Lügenpresse.“

Mitarbeit: Franziska Klemenz