Sächsische Zeitung, Seite 3, 14.05.2021

„Im guten Glauben ausgeliefert“

Ein Missbrauchsfall ist seit 2013 aktenkundig. Als die katholische Kirche ermittelt, sind die Vorwürfe strafrechtlich verjährt. Was macht das mit Opfern?

Von Jens Schmitz*, Tobias Wolf und Ulrich Wolf

Es gibt sie neuerdings wieder, die Tage an den Ellen Adler** am liebsten das Telefon abstellen würde. Weil sie erneut enttäuscht wurde von ihrer geistigen Heimat, der katholischen Kirche, enttäuscht, wie mit ihr und anderen Missbrauchsbetroffenen umgegangen wird. Wie oft Worten kein Handeln folgt.

Wie hält man das aus? „Man ist immer damit beschäftigt, es zu überstehen“, sagt Ellen Adler. Sie lebt in einer Stadt in Sachsen. Erst vergangenes Jahr nahm sich der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers ihrer Sache an und gab eine Untersuchung in Auftrag. Fast sieben Jahre, nachdem Ellen Adlers Fall erstmals aktenkundig wurde, und drei Jahre, nachdem die Vorwürfe strafrechtlich verjährt sind.

Am Anfang war die Suche nach christlicher Spiritualität. Sogar Nonne wollte Ellen Adler werden, gelobte vor einem Priester Armut, Keuschheit und Gehorsam. Aber als sie sich nach dem Mauerfall auf den Weg macht, der sie in ein Kloster nach Österreich führen soll, nehmen die Träume ein jähes Ende. Noch heute fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen.

Als Zwischenstation hatte Adlers Heimatbischof eine Ausbildungsstätte des Pallottiner-Ordens in Franken empfohlen, in der sie ab Januar 1990 auf Reisepapiere wartet. Dort sei ihr von einem angehenden Mönch, dem heutigen Pater Vogt**, Geschlechtsverkehr aufgezwungen worden. Die Aufnahme ins Kloster wird ihr anschließend verweigert. Vogt hat zwar eine andere Sicht darauf, will sich aber nicht öffentlich äußern. Ein Zweiter, Pater Hahn**, soll die Tat gedeckt haben.

Mehr als zwei Jahrzehnte versucht Ellen Adler, zu verdrängen. Sie arbeitet, studiert und flüchtet sich in eine Ehe, die nach ein paar Jahren geschieden wird. Gut 20 Jahre später will sie ihrem Glauben wieder näherkommen. Das heißt auch, sie will, sie muss mit ihrer Scheidung umgehen, um es auf katholische Weise „in Ordnung zu bringen“. Vor der Kirche gilt sie noch als verheiratet. „Mein kirchenrechtlicher Status sollte meiner Lebensrealität angepasst werden.“ Mit dieser Vorstellung sei sie in ein Ehenichtigkeitsverfahren gegangen.

Als sie vor dem Erfurter Offizial, dem unter anderem für Sachsen zuständigen Kirchengericht, dazu befragt wird, brechen die verdrängten Erinnerungen unter Tränen hervor. „Auf einmal entsteht aus Bruchstücken von Erinnerungen ein Film, den man vorher nicht im Kopf hatte.“ Offizial (Kirchenrichter) ist damals ein

Mann, der heute als Pfarrer in einer Thüringer Kleinstadt arbeitet. Der Endfünfziger erinnert sich an Ellen Adler. „Ich dachte damals, mein Gott, was hat die Frau schon mitgemacht.“ Sein Fokus habe damals mehr auf der eherechtlichen Bewertung der Vorgeschichte der Frau gelegen.

Für die Akten schreibt der Offizial ein Eindruckszeugnis, in dem er feststellt, dass die Frau eine Vergewaltigung erlebt habe und nicht der geringste Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit bestehe. Ein paar Monate später beendet er seine Tätigkeit am Kirchengericht.

Heute sagt der Pfarrer, das Offizialat habe seinerzeit Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch weitergeleitet, aber der Fall der Frau sei eindeutig eine Erwachsenenstraftat gewesen. Er sei mit dem Fall nicht noch einmal in Kontakt gekommen. „Wenn sie sich an den Bischof gewandt hat, dann hätte das Bistum etwas unternehmen müssen.“ Ellen Adler kämpft monatelang mit ihren Erinnerungen, will aber auch kein Opfer sein. Außerdem hat sie drei Kinder, für die sie da sein will. Für Adler ist klar: Der Fall ist aktenkundig, nun kümmert sich jemand.

Monate nach Erfurt trifft sie den damaligen Dresdner Bischof Heiner Koch. Ein zweites Gespräch folgt. Die Erinnerungen darüber gehen auseinander. Ellen Adler sagt, sie habe mit Koch über ihre Situation geredet und die Übergriffe des Mönchs angesprochen. Den Bischof habe sie als zugewandt und respektvoll erlebt, den Moment als hilfreich, unterstützend und wohltuend.

Sie sei davon ausgegangen, dass ein kirchenrechtliches Verfahren läuft. Ein Moment, der Mut macht. Heiner Koch, heute Erzbischof von Berlin, bestätigt „zwei intensive seelsorgliche Gespräche mit der Betroffenen“. Er erinnert sich nicht, dass von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung die Rede war. „Sollte ich Signale oder Hinweise nicht wahrgenommen haben, so bedaure ich dies zutiefst und bitte die Betroffene um Entschuldigung.“ Das Zeugnis des Offizialats sei ihm nicht bekannt. „Mit der jetzt geltenden Verfahrensordnung hätte mir der Vorwurf angezeigt werden müssen.“ Seit 2020 gilt die Missbrauchsordnung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), die schutzbedürftige Erwachsene umfasst.

Adler entdeckt, dass „ihr“ mutmaßlicher Täter in einem Ordenshaus in Sachsen Kurse gibt. Sie meldet sich dort und bekommt den Rat, sich an einen Ordensbruder zu wenden. Ellen Adler sagt, dieser habe ihr eine Therapie angeboten, für die sie rund 7.000 Euro bezahlen sollte. Sie sei fix und fertig gewesen. „Ein Ordensmann hat mich vergewaltigt und ein anderer will mit meinem Trauma Geld machen?“ Später habe sich der Pater entschuldigt.

Sich der Vergangenheit zu stellen, belastet Adler. Ihre Hausärztin besorgt therapeutische Unterstützung und rät, eigene Aufklärungsversuche mit der Kirche zunächst abzubrechen. Andernfalls werde sie das nicht überleben. Ellen Adler beschäftigt sich mit Theologie, auch um ihr Verhältnis zur Kirche und ihren Glauben an Gott zu klären. Sie rechnet mit einer jahrelangen Verfahrensdauer, bis irgendwann vielleicht ein Ergebnis aus Rom vorliegt.

Heiner Koch geht in der Zeit als neuer Erzbischof nach Berlin, Heinrich Timmerevers wird Bischof von Dresden-Meißen. Ellen Adler vertraut darauf, dass der neue Bischof den Fall weiterverfolgt. 2018 sieht sie wieder den Namen von Pater Vogt in einem Prospekt eines Jesuiten-Besinnungshauses und fortan gefühlt in allen Programmen. Ellen Adler wird klar: Wenn der Mann immer noch im Einsatz ist, kann es mit einem kirchenrechtlichen Verfahren und weiteren Ermittlungen nicht weit her sein.

Sie kommt in Kontakt mit katholischen Frauenverbänden, nimmt im September 2019 an einer Tagung „Gewalt gegen Frauen in Kirche und Orden“ teil. Dort erzählt sie von sich. Das sorgt dafür, dass der Fall kurz darauf beim Jesuiten-Orden, bei der Deutschen Ordensobernkonferenz und beim Erzbistum Freiburg landet, in dem die beschuldigten Pallottiner-Patres leben. Die Jesuiten gehen den Vorwürfen nach und halten die Anschuldigungen für so glaubhaft, dass der Orden gegen Pater Vogt bis zur Klärung der Vorwürfe ein Betätigungsverbot verhängt.

Auf einer Weiterbildungsveranstaltung im Februar 2020 trifft Ellen Adler in Dresden Bischof Timmerevers. „Da ging es wieder vor allem um minderjährige Missbrauchsopfer“, sagt Adler. „Ich wollte ihm nur den Hinweis geben, dass es bei sexueller Gewalt gegen Frauen einen blinden Fleck gibt.“ Sie erzählt von 1990. Der Bischof bietet ein Gespräch an. Wochen später sitzen sich Adler und Timmerevers gegenüber. Adler wird klar, dass bisher nichts passiert ist. Sie habe ihm gesagt, dass die strafrechtliche Verjährung drohe oder womöglich schon eingetreten ist. Das Bistum Dresden-Meißen teilt mit, Ellen Adler habe dem Bischof deutlich gemacht, dass sie weder bei den Pallottinern noch in Freiburg Gehör finde, „da sie zum vermuteten Tatzeitpunkt bereits erwachsen war“. Timmerevers ordnet eine Untersuchung an.

Ellen Adler soll beim Notar aussagen, ein Anwalt soll ein Gutachten über „die zivil- und strafrechtliche Bewertung zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ und eine mögliche Verjährung erarbeiten. Exakt 9.125,93 Euro bezahlt das Bistum an den Gutachter. Die plötzliche Aktivität überrollt Ellen Adler. „Ich habe mich gefühlt, als sei ich in einen Tsunami geraten, es gab nichts anderes mehr.“ Timmerevers bringt den Fall bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige. Adler muss eine Aussage bei der Polizei machen. Sie erhält den Rat, einen Opferanwalt mitzubringen. Der kann eingreifen, wenn Fragen nach den Details einer Vergewaltigung eine Retraumatisierung auszulösen drohen, und er kann Opferschutz beantragen.

Adler sagt, sie habe Timmerevers um Hilfe durch einen Anwalt gebeten, den sie sich selbst nicht leisten konnte. Es ging nur um ein paar Stunden bei der Kripo. Der Bischof, so behauptet es Adler, soll abgelehnt und gesagt haben: „Reißen Sie sich zusammen, Sie bekommen das allein hin.“ Timmerevers dementiert die Aussage nicht, will sich aber zu Einzelheiten aus Gesprächen mit Betroffenen nicht äußern. „Wir können nachvollziehen, dass die Betroffene noch stärkeren Handlungsbedarf wünschen würde“, schreibt das Bistum.

„Das war der furchtbarste Moment bisher. Ich habe mich so ausgeliefert gefühlt, so alleingelassen“, sagt Adler. Panik, Schlaflosigkeit, Angst davor, ins Bett zu gehen. Sie habe Monate gebraucht, um sich von der Befragung zu erholen. Flashbacks, schlagartige Erinnerungen, überfallen Adler nun jeden Tag. Weil kein Opferschutz beantragt worden ist, fließen offenbar Daten aus der Ermittlungsakte ab. Adler sieht sich in der Folge mit bedrohlichen Anrufen konfrontiert, die sie einschüchtern sollen.

Von sich aus habe das Bistum keine weitere Unterstützung wie therapeutische Hilfe angeboten. „Eine Bitte der betroffenen Frau um Unterstützung für eine Psychotherapie oder für medizinische Behandlungen ist dem Bistum nicht bekannt“, schreibt ein Sprecher. Dresden führt seine Ermittlungen zu Ende. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen ein, „ausschließlich wegen der eingetretenen  Verfolgungsverjährung“ im Jahr 2017. Das Erzbistum Freiburg als auch die Pallottiner leiten daraus ab: Es gilt die Unschuldsvermutung. Pater Vogts Anwältin versucht sogar, den Eindruck zu erwecken, das Verfahren sei „mangels Tatverdachts“ beendet worden.

Bischof Timmerevers urteilt nach der Missbrauchsordnung: Es gebe „tatsächliche Anhaltspunkte“ für sexuellen Missbrauch. Ellen Adler sei vollständig auf den Schutz und die Hilfe des Ordens angewiesen gewesen. Pater Vogt, der die Vergewaltigung begangen haben soll, und Pater Hahn, der das gedeckt haben soll, untersagt Timmerevers den Seelsorgedienst in seinem Bistum – nicht als Strafe, weil dafür andere zuständig wären, sondern vorbeugend. Beim Erzbistum Freiburg ist nicht von Prävention die Rede, nur von der Unschuldsvermutung. Die Vorwürfe seien „nicht bewiesen oder plausibilisiert“.

Als Adlers Fall öffentlich bekannt wird, geht eine neue Gefühlsspirale los. Freiburg veröffentlicht eine „Klar- und Richtigstellung“, erklärt, dass wichtige Dokumente wie Arztunterlagen und ein Polizeiprotokoll nie angekommen seien. Ebenfalls bestritt Freiburg, dass Adlers Antrag auf Anerkennung erlittenen Leids vom Büro der Missbrauchsbeauftragten als „schlüssig und plausibel“ bezeichnet worden sei.

„Das habe ich als erniedrigend empfunden“, sagt Adler. „Die versuchen, mich als Lügnerin und Betrügerin darzustellen.“

Plötzlich findet das Erzbistum dann doch Unterlagen, inklusive der eigenen Einschätzung, alles sei schlüssig und plausibel“. Eine öffentliche Entschuldigung bei der Betroffenen gibt es bisher nicht. Adlers Kirchenrechtler, der sie kostenfrei vertritt, fordert noch mehr Richtigstellungen. So behauptete das Erzbistum, es habe Angebote gemacht wie eine telefonische psychologische Unterstützung, obwohl Ellen Adler sagt, sie sei nur zu ihrem Antrag befragt worden.

„Alles nur scheibchenweise zuzugeben, das empfinde ich als unwürdig“, sagt Adler. „Die geben immer nur zu, was sich gar nicht mehr leugnen lässt, und zeigen auf die Missbrauchsbeauftragte, als hätten sie nichts damit zu tun.“ Auch die Vehemenz, mit der Freiburg auf der Verjährung herumreite, kränke sie, weil aus den Akten ersichtlich sei, dass sich Adler Jahre vor dieser Frist gemeldet habe. „Die haben mit mir geredet, die haben das für plausibel gehalten, ich habe denen vertraut.“

Im Vatikan ist das Verfahren trotz der Dresdner Entscheidung noch bei der Kleruskongregation anhängig, einer Art Priestergewerkschaft. Bischof Timmerevers hat inzwischen mehrfach bekräftigt, dass er an seiner Entscheidung festhalten will, „wie auch immer die Entscheidung der römischen Kongregationen ausfällt“. Das habe sie überrascht, sagt Ellen Adler. Das Dresdner Verfahren sei zumindest am Ende erträglich und respektvoll ausgegangen, auch wenn ihr dadurch noch keine Gerechtigkeit widerfahre. Dass Timmerevers dem Kreuzfeuer der Kritik aus Freiburg standhalte, beeindrucke sie. „Dass sich mein Bischof so klar positioniert, bedeutet mir etwas, weil es nicht selbstverständlich ist und viele Verfahren abgebügelt werden.“

Der einzige Kirchenobere, der mögliche Versäumnisse einräumt, ist Berlins Erzbischof Heiner Koch. Sollte er etwas übersehen haben, so bitte er Adler um Entschuldigung. Und: Nachdem bereits Dresden-Meißen und Bistümer wie Augsburg und Bamberg Einsätzen der beiden Patres widersprochen haben, hat Koch nun ebenfalls die Pallottiner gebeten, Sorge zu tragen, dass Vogt und Hahn nicht im Erzbistum Berlin tätig werden. Damit schutzbedürftige Erwachsene keiner Gefahr ausgesetzt sind.

* Südwest-Korrespondent der Badischen Zeitung

** Namen geändert