Sächsische Zeitung, Seite 3, 20.09.2021

„Der Gang nach Heidenau“

Wie auch andere Kinder wurde Gerda Lemmer vor mehr als 50 Jahren von Pfarrer Herbert Jungnitsch missbraucht. Erst jetzt klärt die Kirche die Taten auf. Was es heißt, endlich ernst genommen zu werden.

Von Tobias Wolf und Ulrich Wolf (Text) und Matthias Rietschel (Foto)

Aus Zittern wird Beben und erfasst den ganzen Körper. Mit einem Ruck setzt sich Gerda Lemmer* aufrecht und drückt den Rücken durch. Dann steht sie auf, kämpft sich auf dem knarzenden Parkett nach vorn. Bis sie neben dem Mann mit dem schütteren Haar und der abgewetzten schwarzen Cordjacke steht. Was der gesagt hat, will, nein, kann sie nicht so stehen lassen. Es würde sie erneut zum Opfer machen. 80 Augenpaare sind in der Aula des Heidenauer Pestalozzi-Gymnasiums auf Lemmer gerichtet.

Donnerstagabend vergangene Woche. Die katholische Gemeinde St. Georg ist in der Schule zusammengekommen, um in den Abgrund der eigenen Geschichte zu gucken. Die Aula erinnert mit den Emporen und hohen Bleiglas-Bogenfenstern an eine Kirche. Die Zuhörer sind im Halbrund versammelt, keiner soll höher sitzen als der andere. Auf einer Leinwand steht: „Auftaktveranstaltung zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Gemeinde Heidenau“.

Zweimal schon hatte die Pfarrei den Termin coronabedingt verschoben, nun beginnt die öffentliche Diskussion über einen der bislang schwersten Missbrauchsfälle im Bistum Dresden-Meißen.

Eine SZ-Recherche hatte den Fall im Februar bekannt gemacht. Mehr als 20 Jahre nachdem Joachim Reinelt, Altbischof des Bistums Dresden-Meißen, erstmals Hinweise erhalten hatte, denen aber jahrelang niemand nachging. Es geht um die Taten des 1971 gestorbenen Pfarrers Herbert Jungnitsch.

Der aus der Nähe von Breslau stammende Geistliche leitete die Georgs-Gemeinde von 1948 bis zu seinem Unfalltod. Mindestens vier Kindern tat er sexuelle Gewalt an, auch „schweren Missbrauch“.

Eines der Kinder von damals ist Gerda Lemmer. Je näher dieser Abend kam, desto unruhiger wurde sie. Die heute 61-Jährige war schon fast 50, als Flashbacks kamen, unwillkürliche Erinnerungen, ausgelöst durch Schlüsselreize, die wieder und wieder durchlebt werden. Bilder aus der Kindheit, im Pfarrhaus, ohne Schlüpfer, mal mit anderen zusammen, der Pfarrer, eine Marienfigur schwenkend. Die Tatorte: die Pfarrwohnung, die Sakristei, die Empore, der dunkle Orgel-Gang. Die zitternden Hände ans Lenkrad geklammert, ist Gerda Lemmer nun wieder nach Heidenau gefahren.

Der Fall treibe die Gemeinde um, sagt ihr Referent Benno Kirtzel. Der 31-Jährige, Vollbart, Nickelbrille, steckt hinter der Aufarbeitung. Seit 2019 arbeitet er in Heidenau. „Missbrauch konterkariert, was wir als Kirche verkünden.“ Kirtzel war Zivildienstleistender im mittelsächsischen Kloster Wechselburg, als der damalige Rektor des Berliner Canisius-Kollegs 2010 systematischen sexuellen Missbrauch publik machte und in der Folge immer mehr Taten ans Licht kamen, die die Katholische Kirche erschütterten und bis heute nicht loslassen.

„Ich habe hautnah erlebt, wie eine Institution damit umgeht.“ Im Studium beschäftigte sich Kirtzel weiter mit dem Thema, half, in seiner Ausbildungsgemeinde ein Schutzkonzept zur Prävention von sexualisierter Gewalt einzuführen.

Überwiegend Frauen und Männer zwischen 40 und 70 Jahren sind in die Aula gekommen, nur wenige sind deutlich älter oder jünger. Ganz vorn sitzt Bischof Heinrich Timmerevers, der monatelang erklärt hatte, nicht kommen zu wollen, bis der Druck zu groß wurde. Er flüstert gelegentlich mit seinem Nachbarn, Pfarrer Vinzenz Brendler. Beide werden als Einzige ihre OP-Masken durchgängig aufbehalten, obwohl das am Platz nicht vorgeschrieben ist.

Brendler eröffnet den Abend, liest ab, als könne jedes frei gesprochene Wort ein falsches sein. „Wir wollen zeigen, dass wir auf der Seite der Betroffenen stehen.“ Sein Bischof sieht das anders. Im Radio hat Timmerevers zwei Tage zuvor erklärt, er stehe irgendwo zwischen Opfern und Tätern, nicht aufseiten der Betroffenen. Der Abend sei der Beginn eines Lernprozesses, so Brendler. Der dritte hochrangige Offizielle, Generalvikar Andreas Kutschke, wird später ebenfalls das Bild der „Lernenden“ bemühen – als wäre seit 2010 nichts passiert.

Gerda Lemmer hat sich seitlich vor eine Wand gesetzt, den Körper an die Mauer gepresst, den Kopf in die Hand gestützt. Sie zittert, sie rutscht hin und her. Immer wieder kommen Panikattacken.

Pfarrer Brendler ist seit 2018 mit für Heidenau zuständig, er ist der vierte Geistliche, der seit dem Tod von Jungnitsch die Gemeinde betreut. Das Thema Missbrauch kennt er: Im Gemeinderat einer Dresdner Pfarrei, in der Brendler bis 2015 tätig war, saß ein Missbrauchstäter, der der europaweit größten Kinderpornografie-Plattform „Elysium“ angehörte; das Gericht verurteilte den Mann 2018 zu fünf Jahren Haft. Dennoch wird Brendler bis auf wenige Formalien schweigen, obwohl er als Gemeindepfarrer das Gesicht der Aufarbeitung sein müsste.

Den Abend moderiert die Sozialpädagogin Heike Mann. Sie leitet eine bei der Arbeiterwohlfahrt angesiedelte Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. „Auch für mich ist das ein bedeutender, außergewöhnlicher Abend.“ Zwei Psychologinnen und ein Anwalt stünden bereit, sollte es zu einem Nervenzusammenbruch, zu einer Retraumatisierung oder anderem kommen.

Mann spricht über Täterstrategien, wie sie Jobs suchen, in denen sie sich an Opfer heranmachen können. Sie erklärt, warum Betroffene sich erst Jahrzehnte nach den Taten offenbaren. Als Kinder können sie nicht verstehen und einordnen, was mit ihnen geschieht. In traumatisierenden Situationen spalten sie belastende Momente ab, können sich deshalb nur bruchstückhaft, teils gar nicht erinnern. Alles Überlebensstrategie.

Vielleicht haben Betroffene oft versucht, ihre Notlage mitzuteilen, und sind nicht gehört, nicht ernst genommen oder gar beschimpft oder bestraft worden. Traumata seien umso schlimmer, je jünger die Betroffenen sind, je länger die Gewalt andauert und je öfter sie wiederholt wird. Wenn den Opfern nicht geglaubt wird und sie keine Unterstützung erhalten. Zwei Männer im Rentenalter machen eifrig Notizen. Heike Mann sagt, das Thema habe sehr viel mit Aushalten zu tun.

Gerda Lemmer hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten. Den Großteil ihres Lebens konnte sie sich vieles nicht erklären: Ängste, Depressionen, Unterwürfigkeit gegenüber Autoritätspersonen, übertriebene Arbeitswut, das Ringen um Anerkennung. Die Ehe zerbrach. Mit den Erinnerungen kam der Burnout. Lemmer hat acht Suizidversuche hinter sich. Immer geplant, immer, nachdem das Trauma wieder da war. Ein Leben zwischen Anspannung und Dämmerzustand. Bis sie nicht mehr konnte und von der Hocksteinaussicht in der Sächsischen Schweiz sprang. Eine Baumkrone rettete sie. Nach der Seele war auch ihr Körper zerstört. Ein Wendepunkt. Lemmer begann eine Therapie.

In der Schulaula wird ihr Zittern mit jedem Redebeitrag stärker. Sie presst einen dünnen Schal im Wechsel vors Gesicht und zwischen ihre Hände, als der 59-jährige Bistumsjustiziar Stephan von Spies die Fakten referiert. Den bisher bekannten Tatzeitraum von 1964 bis 1968. Mindestens vier Opfer: vier bis acht Jahre alte Mädchen, „Vorschulalter bis circa zweite Klasse“. Dazu glaubhafte Aussagen über Nötigungen zu sexuellen Handlungen bei Jugendlichen. Wiederholte Taten, nicht nur vom Pfarrer begangen.

Sechs Männer von 20 bis 70 – auch aus dem „familiären Umfeld“ – sollen beteiligt gewesen sein, hätten zugeschaut, fotografiert, gefilmt oder aufgepasst. Religiöse Symbole und lithurgische Geräte sollen bei den Missbräuchen benutzt worden sein. Die Betroffenen hätten die Täter überwiegend als Gemeindemitglieder eingeordnet. „Die Ehefrauen müssten Kenntnis gehabt haben.“ Ein Seufzen geht durchs Publikum. Eine alte Frau wischt eine Träne weg.

Nach dem Skandal von 2010 wandten sich, dadurch ermutigt, Betroffene aus Heidenau an das Dresdner Bistum. Eine von ihnen ist Christina Meinel, 68. Applaus begleitet sie, als sie mit hochrotem Kopf und zögernden Schritten ans Mikrofon tritt. Wie Lemmer ist Meinel in Heidenau aufgewachsen. Die beiden Frauen sind befreundet. In der von schlesischen Vertriebenen geprägten Kirchgemeinde empfing sie die Kommunion. Am Pestalozzi-Gymnasium machte sie Abitur. In der Georgs-Gemeinde habe sie sich wohlgefühlt. „Wir gingen zur Messe, ich liebte und verehrte ‚Onkel Pfarrer‘ Jungnitsch. Er war jung, gut aussehend, charismatisch.“ Sie habe sogar ins Kloster gewollt. Als ihr viel später dämmerte, dass man ihr etwas Verbotenes angetan habe, habe „der Buschfunk in Heidenau das als wirres Zeug von ein paar verklemmten Frauen“ abgetan.

Gerda Lemmer, zitternd an Sitz und Wand geschmiegt, nickt. Es ist auch ihre Geschichte. Sie würde gern etwas sagen, aber Gefühle fluten sie. Wenn, dann könnte sie nur in der dritten Person über alles sprechen, von einer anderen Frau, das hatte sie sich vorher überlegt. Aus Selbstschutz.

Therapien könnten helfen, aber nicht heilen, sagt Christina Meinel. „Wenn Bein ab ist, ist Bein ab.“ Man könne eine Prothese tragen, aber das ersetze nicht das Bein. „Bei mir ist das Bein die Seele.“ Sie habe ihre Gefühle vereisen müssen infolge des Missbrauchs. „Meine Kinder mussten darunter leiden.“ Die Stimme  zittert, sie kämpft mit Tränen, fängt sich wieder. Eine Mittvierzigerin im Publikum kann nicht mehr aufhören zu weinen, eine betagte Dame ein paar Stühle weiter schluckt.

Sexueller Missbrauch zerstöre das Vertrauen in die Menschen, fährt Meinel fort. Jungnitsch habe Vertrauen und Macht ausgenutzt. Immer wieder schaut Meinel in die Runde, verharrt kurz mit dem Blick auf Pfarrer Brendler und Bischof Timmerevers.

Für Meinel ist der Abend „ein offizielles Bekenntnis und Eingeständnis der Taten durch die Kirche, in der ich groß geworden bin“. Sie appelliert an die Älteren: „Erinnern auch Sie sich und stehen Sie zu der Vergangenheit.“ Jungnitschs Gewalt gegen Kinder, „ist und bleibt ein Teil der Geschichte der Georgs-Gemeinde Heidenau“. Es sei eine Chance, mit der Aufarbeitung zu beginnen. „Das würde mir Frieden und Genugtuung bringen.“ Applaus brandet auf.

Für einen Teil der ältesten Gemeindemitglieder ist Jungnitsch Wohltäter, weil er den Familien half, indem er Lebensmittel, Kleidung oder Lehrstellen besorgte. Gemeindereferent Kirtzel sagt, es gebe Stimmen, „die Jungnitsch immer noch sehr positiv sehen und die Vorwürfe anzweifeln“.

Aus dem Publikum meldet sich der Mann mit der schwarzen Cordjacke und fragt: „Gibt es da mehr als nur die Beschuldigungen von vier Frauen gegen einen Mann, der seit 50 Jahren tot ist und sich nicht wehren kann?“ Ob es keine anderen Beweise gebe? Und ob man geprüft habe, wie lange sich Kinder zurückerinnern könnten? Grummeln im Raum, ein vereinzeltes Klatschen. Es ist der Moment, als Gerda Lemmers Zittern in Beben übergeht.

Bevor sie sprechen kann, entgegnet eine Therapeutin dem Mann, das frühkindliche Erinnerungen bis ins dritte Lebensjahr zurückreichten. Eine Frau sagt, sie sei entsetzt über die Fragen des Mannes. „Die Details

des Missbrauchs, so etwas denkt sich doch niemand aus.“ Und Justiziar von Spies betont, es gebe zwar keine Fotos oder Aufnahmen von den Taten, aber vier Zeugenaussagen, die sich nicht widersprächen. „Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln. Und das ist dann ein Beweis.“ Es ist das wohl aufrichtigste Bekenntnis eines hohen Kirchenvertreters an diesem Abend.

Gerda Lemmer hat nun das Mikrofon. Sie erzählt, dass Betroffene in ihren Familien mutterseelenallein seien, vergebens auf Worte hofften wie: „Wir glauben dir, wie geht es dir?“ Sie erzählt von den Suizidversuchen, vom Sprung vom Hockstein. Sie erzählt von einer Mutter, die nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen den Pfarrer auf die Frage ihrer Tochter jüngst antwortete: „Wir haben das Gerede damals nicht ernst genommen.“ Von einer Mutter, die sagt, sie könne sich damit heute nicht mehr beschäftigen, weil es ihr Leben infrage stellen würde. Gerda Lemmers Stimme droht zu kippen, dann sagt sie „meine Mutter“. Ihr Körper bebt, der Mann mit dem schütteren Haar sieht zu ihr auf, sagt kein Wort mehr.

Die ganz Alten in der Gemeinde hätten versucht, den Missbrauch kleinzureden, wie die Mutter, die sagte: „Aber du warst bestimmt bloß beim Zugucken dabei“, als wäre das nichts gewesen, mit vier Jahren zuzugucken. Lemmer fängt sich, spricht wieder in der dritten Person über sich. „Ich will nicht, dass das untergeht.“ Applaus.

Moderatorin Mann guckt ins Publikum. Die Therapeutin meldet sich noch einmal, wendet sich direkt an Generalvikar Kutschke: „All das hier hätte man seit 2010 machen können, wann kommt von Ihnen der Satz: Ich entschuldige mich, ich ganz persönlich.“ Die Zuhörer applaudieren. Der Mann, der die Verwaltung des Bistums dirigiert, guckt verdattert. Hatte er doch schon über den Lernprozess des Bistums, neue Strukturen, neue Ansprechpartner und die neue Mustergeschäftsordnung der Aufarbeitungskommission gesprochen. Kutschke guckt die Therapeutin an. „Ich bitte Sie um Entschuldigung.“ Es klingt technokratisch, wie etwas, das man an diesem Abend und an dieser Stelle so sagen muss.

Sein Blick streift Gerda Lemmer, wandert zu Christina Meinel. „Dass die Ortskirche und ihre  Verantwortlichen die Taten nicht verhindert haben: Dafür bitte ich um Entschuldigung.“ Gerda Lemmer murmelt: „So eine Entschuldigung brauche ich nicht, lieber Taten.“ Vorn guckt der Generalvikar etwas hilflos auf Christina Meinel, die ihn schließlich erlöst: „Sie haben mich angeguckt dabei, das kommt an. Wenn das auch von Herrn Timmerevers käme …“

An den Bischof geht die Forderung aus dem Publikum, etwas gegen noch lebende Täter zu machen, deren Namen man kennen müsste. Stichwort Kinderschänderring Elysium. Pfarrer Brendler zuckt zusammen, der Bischof rührt sich zunächst nicht, aber geht dann doch noch ans Mikrofon.

Auch er dankt Meinel „aus tiefem Herzen“. Sie habe durch ihre Hartnäckigkeit diesen Abend erst ermöglicht. Nach über zehn Jahren. Schon damals war dem Bistum vorgeschlagen worden, die Pfarrei zu einem „Selbstreinigungsprozess“ aufzufordern und eine innerkirchliche Untersuchungskommission einzuberufen. Das versandete ebenso wie eine 2012 geplante Information der Öffentlichkeit durch das Bistum.

Und als ob er an der Aufrichtigkeit der Aussage seines Generalvikars zweifelt, sagt Timmerevers: „Ich bin mit der Absicht hier in den Saal gekommen, um zu sagen: Ich bitte Sie und alle anderen Betroffenen offiziell als Vertreter der Institution um Entschuldigung.“ Eine Bitte um Entschuldigung für die seit Jahrzehnten verpasste Aufklärung gibt es nicht. Oder das Geheimhalten der schwersten Missbrauchsvorwürfe im Bistum vor der Öffentlichkeit, Dinge, die die Kirchenfunktionäre im Gegensatz zu den Taten zu verantworten haben.

Der Aufarbeitungsabend von Heidenau, er ist allenfalls ein Anfang. Für die Betroffenen ist es ein Erfolg, dass ihr Leid endlich öffentlich zur Sprache kam und Gemeindemitglieder zugehört haben. Als Gerda Lemmer ins Auto steigt, zittert sie nicht mehr. Christina Meinel radelt zur S-Bahn, um den Zug nach Dresden zu nehmen. Das Angebot, die für den Abend zur inneren Einkehr geöffnete St.-Georgs-Kirche zu besuchen, hat sie nicht angenommen. Sie, die einmal Nonne werden wollte, ist schon vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten.

* Name geändert.